Jetzt gibt es Links, die man sich anschauen kann, wenn man rechts auf Links klickt.
Und hier ist es, das schönste Winterbild seit Pieter Bruegel d.Ä.
Es ist das von Harald Schröder fotografierte Cover zur CD „Wenn Winter ist, will Eis ich schlecken“, die gerade bei der Stalburg Theater Tonträgerei erschienen ist.
Versammelt sind die komischsten Texte seit Schuberts „Winterreise“: von Demski, Bernstein, Gernhardt, Knorr, Clausen, Eilert, Stössinger, van Nelsen, Betancurt, Tuschick, Herl und Altenburg. Es lesen Ingid El Sigai und Jo van Nelsen.
Die Herauskommfeier zur CD findet statt am 6. Dezember um 20 Uhr im Theater Stalburg in der Glauburgstraße 80, und das wird die lustigste Party seit Ernst Jüngers Beerdigung. Beziehen kann man das Werk unter 069 / 25 62 77 44 oder im Stalburg Theaterladen, Spohrstr.39 (Frankfurt, Nordend) oder über www.stalburg.de
Donnerstag, 30. November 2006 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, neunkommaein Grad. Bedeckt.
Gestern schnell einkaufen, dann in die Spohrstraße zu Herl in den Theaterladen der Stalburg, die Winter-CD abholen. Hui, ist das Cover aber schön geworden. Wieder heim. Mailen. Amazon. Ebay. Kaufen. Bald Weihnachten. Anruf Piwitt. Kochen. Jürgen. Essen. Kulturzeit. Böll war ein CIA-Agent. Burga. Bett. Kryptisch?
Es gibt Sätze, bei denen ich vor Wut gegen die Wand treten möchte. Zum Beispiel: „Das Faszinierende an den italienischen Märkten ist ja gerade die Vielfalt der Farben und Gerüche“. Oder: „Guter Jazz muss für mich so ein relaxtes Grooven haben.“ Oder: „Die Ausleuchtung des Wohnbereichs ist meist eine heikle Sache“. Oder: „Mit dem Hörspiel als Form kann man eigentlich unheimlich viel machen“.
Es gibt Links, die selbst ich nicht anklicke. Zum Beispiel: „Lebendigen Igeln die Pfoten abgeschnitten.“ Oder: „Mutter steckt Baby in die Mikrowelle“. Oder noch schlimmer: „Berlusconi kann Klinik wieder verlassen.“
Es gibt Aufschriften, bei denen man ins Träumen kommt. Zum Beispiel auf der Plane eines Anhängers: „Anhänger-Oase – Vermietung, Verkauf, Reparatur von Anhängern aller Art“. Wie hat man sich eine Welt vorzustellen, für die jemand das Wort „Anhänger-Oase“ erfindet? Eine öde, leere Wüste, alles lechzt, hungert, dürstet nach Anhängern, aber nirgends ist einer zu sehen. Da, endlich, in der Ferne, gerade noch, dass wir den Ort vor Einbruch der Dunkelheit mit unseren erschöpften Autmobilen erreichen …
Lange Totenliste: Oscar Wilde, Fernando Pessoa, Béla Kun, Ernst Lubitsch, Wilhelm Furtwängler, Helmut Horten, Alfred Herrhausen, Hilde Spiel, Ulrich Wildgruber. Und der freundliche Sänger Hans Hartz, den ich oft in seinen Sandalen durch den Aldi-Markt auf der Berger Straße habe schlurfen sehen.
Mittwoch, 29. November 2006 – Vieruhracht, achtkommasechs Grad. Dunkel.
Bin ich eigentlich verrückt? Es ist 04:08 Uhr, ich bin vor zwei Stunden aufgewacht und treibe mich seitdem schon wieder auf den Internetseiten des FBI und der amerikanischen Zeitungen herum. Nebenbei immer mit Google Earth die Schauplätze abscannen, mit Wiki ein wenig Hintergrundmaterial sammeln und mit Leo die fehlenden Worte übersetzen. – „Dad cops plea in girl’s death“. Das versteh ich trotzdem nicht.
Das dritte Opfer der „Black Horse Killings“ von Atlantic County ist identifiziert: Es handelt sich um die 42-jährige Barbara Breidor. — Nachtrag 04:48 Uhr: Gerade kommt die Meldung, dass auch die vierte Frau identifiziert wurde: Es ist Molly Jean Dilts (20). Das Tattoo auf ihrem Bauch hieß also nicht “Yolly” sondern “Molly”. Sie hatte sich am 7.Oktober zum letzten Mal bei ihrer Familie in der Nähe von Pittsburgh gemeldet. Der Zustand ihrer Leiche läßt darauf schließen, dass sie bereits seit Ende Oktober tot ist.
Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag: „Wir sind die Partei von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Schichtendenken bzw. Klassendenken ist und bleibt uns fremd. Das wird es auch in Zukunft nicht geben dürfen. Sonst sind wir keine Volkspartei mehr, liebe Freunde. Das ist die Wahrheit.“ Der einbeinige Bettler vor dem Karstadt und Josef Ackermann – alles dieselbe Soße. Hauptsache Volk, Hauptsache deutsch. Das Protokoll vermerkt: „(Beifall)“.
Tot sind: Puccini, Zeppo Marx, Cary Grant und George Harrison.
Dienstag, 28. November 2006 – sechsuhrnullnull, achtkommaein Grad. Dunkel.
„In der Heiligen Zeit ist der Teufel nicht weit.“ (Jörgs Oma)
In der Kulturzeit singt Ray LaMontagne ein paar seiner depressiven Songs. Dazu ein guter Spruch: “Keine Frage, diesem Mann geht es schlecht. Aber so lange er so schön davon singt, wird es niemanden geben, der ihm helfen will.”
Erinnert sich noch jemand daran, wie in diesem Sommer in fast allen Blättern des Landes der „entspannte Patriotismus“ der Deutschen gefeiert wurde? Hier vier Meldungen vom Wochenende: In Lahr überfielen Skinheads einen 35-jährigen Deutschen tunesischer Abstammung. In Quedlinburg wurde ein 20-Jähriger von einer Gruppe Neonazis zusammengeschlagen. Ebenfalls in Quedlinburg wurde eine junge Frau von Nazis attackiert. Drei Jugendliche wurden in Magdeburg von Rechtsradikalen angegriffen und verletzt. In Halberstadt wurde ein Spätaussiedler von Rechtsextremen mit einem Baseballschläger verprügelt.
„Contagious shooting“ nennt man es in Polizeikreisen, wenn ein Polizist zu schießen beginnt und daraufhin seine Kollegen, ohne die Lage selbst zu überblicken, aber als seien sie angesteckt, ebenfalls das Feuer eröffnen. 50 Mal innerhalb nur einer Minute hat eine Gruppe Polizisten am Samstag im New Yorker Stadtteil Queens auf drei unbewaffnete schwarze Männer geschossen. Sean Bell, der wenige Stunden später heiraten wollte und mit seinen beiden Freunden den Junggesellenabschied gefeiert hatte, verblutete auf dem Weg in die Klinik. Die beiden anderen Männer wurden schwer verletzt. Sie wurden mit Handschellen an ihre Krankenbetten gefesselt. Bislang ist völlig unklar, was ihnen vorgeworfen wird.
Nachtrag: Samstag Gang durch das Atelierfrankfurt, abends „Wilde Erdbeeren“. Sonntag große Ritzelrunde, zuerst mit Atilla, dann Treff an der Deutschen Bibliothek und Richtung Ronneburg, abends zu Naomi und Matthias, dort Sabine und Bertram, der von Hans Weil erzählt.
Wie man einen Text nicht schreibt, kann man sich auf der Seite von Atelierfrankfurt anschauen: Auf Willkommen klicken und lachen! “Entsprechend seiner prozessualen Ausrichtung werden die Inhalte der Projekte …” Und so will man uns Kunst verkaufen.
Tot: Enid Blyton, Fritz von Unruh, Fernand Braudel.
Sonntag, 26. November 2006 – Siebenuhrdreiundfünfzig, elfkommasieben. Bedeckt. Schwere Wolken.
Freitag am Nachmittag mit dem ICE Richtung Köln. Schon am Flughafen verzögert sich die Weiterfahrt um zehn Minuten. Holen wir auch nicht mehr auf. Also verpasse ich am Kölner Hauptbahnhof die S-Bahn und muss stattdessen ein Taxi nach Dellbrück nehmen. Dauert aber viermal so lang. Mist. Schaffe es nicht mehr ins Hotel, also gleich in die große Tischlerei – Manufact. Thomas Winkler, der Buchhändler, freut sich: die Veranstaltung ist Tagestipp im Kölner Stadtanzeiger. Ah, die haben hier einen Corbière-Wein. Achtzig Stühle sind gestellt, aber dann müssen noch Bänke rangeschafft werden. Gernot, Peter, Doris tauchen auf – jetzt kann nichts mehr passieren.
Es spielen Guntram Freytag aus Dresden (Saxofon) und seine Musiker, ein Russe (Gitarre) und ein Österreicher (Bass). Wollen wir uns nicht alle duzen? Doch, sowieso. Am Anfang spielen sie solche Krimi-Witzigkeiten: Miss Marple, Filmmelodien usw. Aber schon während ich die erste Passage aus der „Braut“ lese, baut Guntram Freytag das Programm um, stellt das Saxofon zur Seite und nimmt stattdessen das Akkordeon. Ich fühle mich beim Lesen regelrecht getragen von dieser Musik. Echt ein guter Typ. Er merkt beim Spielen wie mir das gefällt, und einmal lächeln wir uns fast selig an. Bisschen fragen, bisschen antworten. Dann italienisches Restaurant, aber da ist Geschlossene Gesellschaft mit mächtig Tanz. Also paar Häuser weiter. Essen. Spät ins Hotel, heißt „Uhu“.
Morgens mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof, kurzer Blick auf den Dom. Mit mir im Abteil eine Gruppe Frankfurter Kriminalpolizisten, die am Abend zuvor durch die Kölner Kneipen gezogen sind. Sie erzählen von zwei Frauen, die im Lokal „ihre dicken Titten gezeigt und gegenseitig dran genuckelt“ haben. Es hat ihnen gefallen, den Polizisten. „Fährt jemand mit ins PP?“ – „Nee, ich fahr gleich durch nach Hanau.“ – wo sie offensichtlich gerne wohnen.
Inzwischen ist nach Kim Raffo ein zweites Opfer der Morde von Atlantic City – die in der Presse bereits „Black Horse Killings“ genannt werden – identifiziert worden: es ist die 23jährige Tracy Ann Roberts. Janette Brown, eine Bekannte der beiden Frauen, wird in der „Press of Atlantic City“ zitiert: „I think I know exactly who did it but I’m scared to say because he’s still out there.”
Eine 22jährige Frau, ihr 40jähriger Komplize und ein weiterer 53 Jahre alter Mann sind festgenommen worden, weil sie junge Frauen in ein Haus in Garlstedt (Landkreis Osterholz) gelockt und dort geknebelt und gefesselt haben. Eine der Frauen war rund drei Wochen lang in einen Käfig gesperrt und während dieser Zeit immer wieder von den zahlenden „Kunden“ der Verdächtigen vergewaltigt worden.
Tot sind: Eichendorff, Browning, Courths-Mahler, Arnold Zweig, Wim Toelke. Und der bayerische Bombenbauer Johann Lang.
Freitag, 24. November 2006 – Elfuhrsechsunddreißig, zwölfkommaein Grad. Grau.
Obwohl die Polizei sich bemüht hat, sämtliche Spuren, die der Amokläufer Sebastian Bosse im Netz hinterlassen hat, umgehend zu löschen, ist ihr das bislang noch nicht vollständig gelungen. Immerhin lassen sich noch die Einträge des Online-Tagebuchs von „resistantX“ finden, die jetzt zum Gegenstand vieler Kommentare werden. Unter anderem von diesem: „Solltest du wiedergeboren werden und erneut einen Amoklauf durchziehen wollen, deinstalliere doch vorher bitte CounterStrike von deinem Rechner, ja? Das ewige Killerspiele-Gejammer geht mir wahnsinnig auf den Sack.“
Während sich Polizei und Staatsanwaltschaft noch zurückhaltend zeigen, spekulieren die außerbehördlichen Fachleute bereits über die Umstände der vier Frauenmorde von West Atlantic City. Danach gilt es als sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Serienmörder handelt, dass er aufgrund seiner Ortskenntnis aus der näheren Umgebung stammt, und dass er mit großer Wahrscheinlichkeit bald wieder zuschlagen wird. Inzwischen wurden alle vier Opfer obduziert, nur bei zweien konnte man die Todesursache feststellen: Eine der Frauen wurde zu Tode stranguliert, die andere ist aus unbekannter Ursache erstickt. Noch immer kennt man nur den Namen Kim Raffos. Eine Frau hofft man aufgrund ihrer drei Tattoos identifizieren zu können: eine Bulldogge auf dem Rücken, ein Playboy-Bunny auf der Schulter und das Wort „Yolly“ um den Nabel herum.
Das Luftbild der Staatsanwaltschaft zeigt die Fundorte der Leichen (vier weiße Punkte auf der Diagonalen).
Über Kim Raffo wurde derweil bekannt, dass sie aus Brooklyn stammte, den Handwerker Hugh Auslander heiratete, mit ihm nach Florida zog und zwei Kinder hatte: eine Tochter (14) und einen Sohn (12). Sie trennte sich von ihrem Mann, ging nach Atlantic City, wurde drogensüchtig und ging auf den Strich. Der Besitzer von „Papa Joe’s Restaurant“, wo sie fast täglich aß, hat sie am letzten Sonntagmorgen gegen 2.30 Uhr in das Auto eines Freiers steigen sehen. Wie er das öfter tat, hat er sich auch diesmal die Autonummer notiert. Er habe das Kennzeichen an die Ermittler weiter gegeben.
Todestag von Diego Rivera, Lee Harvey Oswald und von László József Bíró, dem Erfinder des Kugelschreibers.
Donnerstag, 23. November 2006 – Fünfuhreinunddreißig. Siebenkommanull Grad. Dunkel.
Weil das Kartenmaterial der Staatsanwaltschaft von Atlantic County sehr ungenau ist, dauert es eine halbe Stunde, bis endlich auf Google Earth der Fundort der Leichen geortet ist. Dann habe ich das Satellitenbild. Die Stelle liegt an der Lakes Bay zwischen Atlantic City und Pleasantville, dort, wo Expressway und Black Horse Pike parallel zu einander verlaufen. Eine Gegend, in der vor fünfzig Jahren Familien Urlaub machten, wo sich jetzt aber vor allem Prostituierte und Dealer aufhalten. Dort waren am Montag in einem Abwassergraben hinter einem heruntergekommenen Motel vier Frauenleichen nahe der Bahnlinie gefunden worden. Jedes der Opfer war weiß und hatte blondes Haar; die Frauen waren alle barfuß, lagen auf dem Bauch und waren mit dem Gesicht nach Osten gerichtet. Der Zustand der Leichen weist darauf hin, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten, aber alle im Verlauf der letzten drei Wochen hier abgelegt wurden. Bislang wurde erst eines der Opfer identifiziert: es handelt sich um die 35jährige Kim Raffo, die während der Woche vor ihrem Tod in einer Pension in Atlantic City gemeldet war.
Am Vormittag Anfrage des Fernsehens, ob ich gemeinsam mit Renate Schmidt und Bernhard Bueb an der Sendung „Quergefragt“ teilnehmen möchte. “Geradeausgeantwortet”: nein.
Keine sieben Stunden später: Das „Nachtcafé“ des SWR-Fernsehens bittet um Teilnahme an der Sendung „Erfolgsgeheimnis Disziplin“. Auf jeden Fall dabei: Dr. Bernhard Bueb. Himmel aber auch …
Tot sind: Hanns Johst, der Dramatiker Hitlers und „Barde der SS“, von dem der Satz stammt: „Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning“. Wieland Herzfelde, Kommunist, Publizist, Verleger. Klaus Kinski, Fuchtler. Und Louis Malle, der 1980 den schönen Film „Atlantic City, USA“ drehte.
Mittwoch, 22. November 2006 – Vieruhrdreißig, sechskommaneun. Dunkel. Regnet ja gar nicht.
„I am too lazy to shoot myself.“ (Lord Byron)
Final Cut: Am Abend die Nachricht, dass Robert Altman gestorben ist.
„Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin“, schreibt Sebastian B., der 18jährige Amokläufer von Emsdetten in seinem Abschiedsbrief. Und schließt mit den Worten: „Ich bin weg.“
Dass ein Verbot der sogenannten Killer-Video-Spiele Gewalttaten in der Realität verhindern würde, mag man bezweifeln. Aber welchen Grund gibt es eigentlich, diese Spiele nicht zu verbieten?
In der Nähe einer Gruppe von Motels bei Atlantic City an der Ostküste der USA hat eine Spaziergängerin am Montag die Leiche einer Frau gefunden. Die hinzugerufene Polizei entdeckte drei weitere Leichen. Offenbar wurden die Frauen erschossen. Näheres ist noch nicht bekannt.
Tote: Jack London, John F. Kennedy, Aldous Huxley, Mae West, Erich Fried.
Dienstag, 21. November 2006 – Siebenuhreinunddreißig, neunkommanull. Es dämmert, regnet.
Nicht die geringste Lust, der schweigenden Welt dort draußen etwas mitzuteilen.
Nach Monaten mal wieder über die Zeil. Und reicht für Jahre. Mit all diesem Muff aus Billigshops, Glühwein, gieriggeilen Fressen, Ladenschwengeln, Schnäppchen, Chanel, Woolworth, fettleibiger Provinz, Lautsprechern, Svarowsky, virilen Jungtürken, Dolce & Gabana, Unverschämtheiten, Wetterauer Dummdeutsch.
Dann für anderthalb Stunden in die ganz andere Welt gerettet, in die Schirn, wo die Musikschule ihr Foyerkonzert gibt.
Spiegel: „Die Deutschen müssen das Töten lernen“. Das heißt schon was, einen solchen Satz – und sei es in Anführungszeichen – auf’s Titelblatt zu setzen. Einundsechzig Jahre danach.
Was für eine Liste von Toten: Henry Purcell. Angelo Soliman. Johann Bückler, genannt Schinderhannes. Heinricht von Kleist. Henriette Vogel.
Samstag, 18. November 2006 – Siebzehnuhreins, zwölfkommafünf Grad. Dunkel.
Eine gute Nachricht: Der Gebäudereiniger, ehemalige Berufsboxer und Sohn eines sardischen Eisenbiegers Graciano Rocchigiani muss mal wieder ins Gefängnis.
Noch eine gute Nachricht: Ulrich Boom, Stadtpfarrer im unterfränkischen Miltenberg, hatte am 20. Juli diesen Jahres die Glocken seiner Kirche so lange läuten lassen, bis die Neonazis, die ganz in der Nähe einen Aufmarsch abhielten, ihre Kundgebung entnervt abbrachen. Die Nazis zeigten den Pfarrer daraufhin wegen grober Störung einer genehmigten Versammlung an. Jetzt teilte die Staatsanwaltschaft mit, dass sie das Verfahren eingestellt habe. Der Pfarrer, der in der Lokalpresse bereits als der „Don Camillo von Miltenberg“ bezeichnet worden war, auf die Frage, ob er in einem ähnlichen Fall erneut so handeln würde: „Aufgrund meiner Lebensart vermute ich, dass ich wieder etwas Ähnliches machen würde.“
Heute vor 84 Jahren starb Marcel Proust. Wenn es in der Literatur Heiligsprechungen gäbe und ich der Stellvertreter Goethes auf Erden wäre, ich würde ihn, der auf dem Friedhof Père Lachaise begraben liegt, als Ersten und Einzigen heilig sprechen.
Heute vor 19 Jahren starb Jacques Anquetil, fünfmaliger Sieger der Tour de France. Im Jahr 2004 veröffentlichte seine Tochter Sophie ein Buch, in dem sie enthüllte, dass ihr Vater jahrelang in Bigamie mit seiner Frau Jeanine und seiner Stieftochter Annie gelebt hat. Sophie entstammt der Beziehung zu Annie.
Freitag, 17. November 2006 – Zehnuhrzweiundfünfzig, vierzehnkommdrei. Bedeckt.
Robert erzählt, dass er einmal nach Paris gefahren sei, um dort eine Freundin zu besuchen. Am Haus angekommen, habe er auf einem der Klingelschilder den Namen „Biermann“ gelesen. Da er gewusst habe, dass der Sänger in Paris ein Haus besitze, habe er die Freundin gefragt, ob es sich bei ihrem Vermieter um den deutschen Musiker handele. Den kenne sie zwar nicht, aber in der Tat komme aus einer der Wohnungen gelegentlich der scheppernde Klang einer Gitarre und das Krächzen einer Singstimme. Und eben schaue ich in mein altes Pariser Telefonbuch von 1994, tatsächlich: Dort ist ein Wolf Biermann verzeichnet: 30, rue Samson im 13. Bezirk.
Was ich heute gelernt habe.
1. Dass ein Mensch, der sexuell erregt wird, wenn er sich an anderen reibt – zum Beispiel im Gedränge eines Kaufhauses oder einer U-Bahn – als Frotteur bezeichnet wird.
2. Dass man Kniekehlensex als „albanisch“, Achselhöhlensex als „italienisch“ und Pobackensex als „mongolisch“ bezeichnet.
3. Dass man unter Amputophilen Menschen versteht, die es mögen, wenn ihrem Sexualpartner einzelne Gliedmaßen fehlen.
4. Dass man als Infantophilie die sexuelle Fixierung auf Kleinkinder bis zum sechsten Lebensjahr bezeichnet.
5. Dass man es Dogging nennt, wenn Menschen dadurch erregt werden, auf Parkplätzen oder in Wäldern Sexualverkehr zu haben. Dass ein solches Vorhaben oft im Internet angekündigt wird, um möglichst viele Zuschauer anzulocken. Und dass das Dogging eine aus England kommende Bewegung ist, die weltweit immer mehr Verbreitung findet.
6. Dass es Liebhaber für alles gibt.
Tote des Tages: Rodin, Ringelnatz, Villa-Lobos, Bob Marley, Marianne Bachmeier.
Donnerstag, 16. November 2006 – Achtuhrsechsundfünfzig, neunkommafünf. Schwerer Kopf. Und, Robert, wie geht’s Dir? Sehr sonnig. Die Forsythien blühen.
Auch so eine Idiotengeste: „Ich geb Ihnen mal mein Kärtchen“. Dann wird es lässig zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt und schwebt auf einen zu, so dass man gar nicht anders kann, als es ratlos entgegen nehmen und verlegen bewundern. „Hübsches Design.“ Mmh.
Es scheint Menschen zu geben, die nur aus einem Grund durch die Stadt spazieren: um freundlich zu sein. Sie lächeln unentwegt, sprechen alle paar Meter jemanden an, scheinen endlos Zeit zu haben, wollen sich vielleicht durch ihre Freundlichkeit selbst ein Lächeln ihres Gegenübers einfangen. Nett ist das, wirkt aber manchmal auch ein wenig bestusst, religiös, erlöst.
Biermann im Radio. Selbst wenn man ihn nicht sieht, meint man doch ihn zu sehen: wie er die Augen aufreißt, verschmitzt-verlogen die Lippen spitzt, wie er sich ziert und spreizt und dreht. Alles an diesem Mann ist selbstgerechte Emphase. „Ich kleiner Deutscher …“ Selbst seine behauptete Bescheidenheit: nichts als eitler Hochmut. Und wie er ständig meint, die Welt belehren zu müssen … Still davon! Aber dann dieser Schreck: Er erzählt, dass er seit acht, neun Jahren im Sommer in Banyuls Urlaub macht, dort also wohnt, wohin ich jeden Morgen mit dem Rad fahre. Wenn er mir da begegnete, mein Gott, ich weiß nicht, was ich schreien würde …
† Clark Gable, Lucia Popp, Georges Marchais.
Mittwoch, 15. November 2006 – Siebenuhrfünfundzwanzig, elfkommasechs. Regnet’s? Nee, glaub’ nicht.
Mit dem Rad in die Stadt. Das Gerichtsviertel ist von Polizei umstellt. Keine Ahnung, was da los ist. Lauter Schulklassen vor dem Römer, wollen zur „Lese-Eule“. Und die ewigen Japaner, die einem schon keiner mehr glaubt, die aber immer da sind und denen man ständig durchs Bild läuft. Der riesige Weihnachtsbaum wird gerade aufgestellt. Rein ins Haus. Ist Frau Bee schon da?! Ja, da ist sie doch. Hoch in das winzige Studio. Sechs Minuten fürs Literaturtelefon aufnehmen. Ab 1.Dezember zu hören unter: 069-24246021. Mist, ich werde wirklich krank. Schnell nach Hause.
Auf arte ist es auch nicht besser. Wellness, Chic, Lola, Mode, Trends. „Sich selbst lieb zu haben, das ist ja das Allerwichtigste für eine Frau.“ Uff ja, wie versehrt muss ein Hirn sein, damit es einen solchen Satz zustande bringt. Wirklich, was aus diesem Kasten kommt, ist zu neunundneunzig Prozent Müll. Aber wie wichtigwichtig sie alle sind, die Senderleute, die Anstaltsnasen. Und was das alles kostet, wie viel Geld, Zeit, Kraft, Phantasie. Was man damit alles machen könnte …
Nachrichten: Gegen Armin Meiwes, den sogenannten Kannibalen von Rotenburg, wird vor dem Landgericht Frankfurt verhandelt. Deshalb also vorhin dort die Polizei. Aber vor was haben die Angst? Dass Meiwes abhaut, dass er gelyncht wird, dass er zubeißt?
Heute denken wir mal nur an den Pferdezüchter und Schauspieler Jean Gabin, dessen Asche über dem Atlantik verstreut wurde. Ach nein, und an Mohamed Choukri.
Dienstag, 14. November 2006 – Zwölfuhrsiebenunddreißig, fünfzehnkommazwei Grad. Trüb, regnerisch.
Werde ich eigentlich beobachtet aus dem Haus gegenüber? Liest da vielleicht sogar jemand mit? Oder bin nur ich derjenige, der immerzu glotzen muss? Der jedes Mal den Hals reckt, wenn irgendwo in einem Zimmer eine Lampe eingeschaltet wird, eine Gardine sich bewegt. Und der dann mitschreibt?
Im Autoradio. Erst kündigt die Moderatorin von HR 2 eine Besprechung des neuen Films von Andy Warhol an … ähh, nein, Woody Allen, sagt sie. Dann liest jemand im penetrantesten österreichischen Dialekt einen der unsäglichen Mozart-Briefe an das Bäsele … Und das ist es nun, was der Welt gefällt: das selbstverliebte, Zoten reißende Genie. Nach fünfzehn Sekunden schalte ich ab. Werd mir doch meinen Mozart nicht verderben lassen, schon gar nicht von ihm selbst.
Tote des Tages: Jean Paul, Hegel, Manuel de Falla, Tony Richardson („Mademoiselle“ mit Jeanne Moreau, Foto).
Montag, 13. November 2006 – Zehnuhracht, achtkommanull. Trübe.
Gestern Regen. Schnelle Wolken. Blaue Flecken am Himmel. Schwere Greifer auf den braunen Äckern. Plötzlich Sonne und für einen Moment, jetzt, Mitte November, eine fast österliche Stimmung. Und unten glitzert in der Nässe silbern die Stadt.
Am Abend nach der Lesung im Kronenhof eine freundliche Dame: Ich sei ja wohl ein Zyniker, sagt sie, jedenfalls könne sie, mein Tagebuch lesend, zu keinem anderen Schluss kommen. Wie nur kann man diesen Irrtum ausräumen? Zynisch sind die Redakteure von „Bild“, die auf ihrer Titelseite mit gespielter Empörung verkünden: „Axel Schulz – Schwester arbeitet im Puff“ und uns eine Seite weiter Nacktfotos der neuen „Ausziehbildenden“ zeigen. Zynisch bin nicht ich, der das aufschreibt.
Tote: Vittorio de Sica („Fahrraddiebe“, Foto), Rudolf Schock, Karin Brandauer.
Samstag, 11. November 2006 – Fünfzehnuhrsechsundvierzig, achtkommaeins. Trübe.
“Kurzecks lange Kurve” – mit diesem charmanten Betreff kam gestern um 16.59 Uhr eine Mail von Jörg Erb aus dem Rheingau:
„Lieber Matthias, dass du so plötzlich beim Kartoffelschälen an Kurzeck denkst, mag daran liegen, dass ich gestern sowohl an dich als auch an ihn und seinen „Kirschkern im März“ dachte. Susanne, ich und Hund waren die letzten zwei Oktoberwochen in Uzès, haben Kurzeck dort in einem Restaurant gesehen. Von Günter Kämpf, bei dem wir wohnten, habe ich mir den Kirschkern ausgeliehen, aber nicht zu Ende lesen können. Gestern fiel mir das dann ein.
Und du? Deine Geisterbahn lese ich fast immer. Fällt aber oft schwer, weil mir scheint, du bist ganz abgeschnitten, einsam mit deinen Themen, rufst aber ganz laut ins Dunkel…
Hast du mit Attila noch mal über das Hörbuch gesprochen? Ist das noch ein Thema? Ich freue mich, wenn ihr euch meldet.
Grüße, Jörg“
Heute tot: Alfred Brehm („Beiträge zur Vögelkunde“), Alf Brustellin, Yassir Arafat
Freitag, 10. November 2006 – Fünfuhrachtundfünfzig, sechskommaein Grad. Dunkel.
Anderthalb Stunden auf dem Rollentrainer. Der Kampf um den Winterpokal ist eröffnet und schon verloren.
Mail von Cyril, er sei auf dem Weg nach Frankfurt. Na prima, können wir uns treffen. Neue Mail: Nee, jetzt sei er schon wieder auf dem Weg nach München. Ja, aber wenn er von München wieder zurück fahre … Nein, dann müsse er rasch nach Moskau …
Was sind das bloß für seltsame Schaltungen im Hirn. Stehe in der Küche, schäle Kartoffeln, denke an den morgigen Einkauf, und plötzlich – flash! – sehe ich mich zurückversetzt an jenen Sommersonntagmorgen in Uzès, als vollkommen unerwartet Peter Kurzeck im weißen Hemd und mit geschultertem Jackett dort über den schönen Marktplatz schlendert. Und ich ihn nicht anspreche, weil mir sein Name entfallen ist …
Der Suhrkamp Verlag erfährt aus der Zeitung, dass er jetzt zwei neue Besitzer hat. Die Schweizer Familie Reinhart, die seit Anfang der 50er Jahre beteiligt war, will nicht mehr. Stattdessen steigen nun ein: Claus Grossner und Hans Barlach, der als Medieninvestor bezeichnet wird. Und man fragt sich, ob das wirklich ein ordentlicher Lehrberuf ist.
Am 10.November 1944 wird der sechzehnjährige Barthel Schink (Foto, Mitte) – Edelweißpirat, Mitglied der Ehrenfelder Gruppe – von den Nazis in der Hüttenstraße in Köln-Ehrenfeld öffentlich am Galgen hingerichtet.
Donnerstag, 9. November 2006 – Elfuhrzweiundfünfzig, zwölfkommazwei. Bedeckt.
Mit der Absicht, sich durch einen Sprung in die Tiefe das Leben zu nehmen, ist am Montag gegen elf Uhr vormittags eine junge Frau auf eine Terrasse im 16.Stock des Rathauses von Lörrach gestiegen. Während Polizei und Rettungskräfte versuchten, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen, wurde sie von einer Gruppe Jugendlicher durch laute Zurufe ermuntert: „Es wird langweilig“ und „Spring doch endlich“. Als darauf hin einige in der Nähe stehende Obdachlose, die Jugendlichen verbal attackierten – „Haltet die Schnauze!“ – kam es zu einer Massenschlägerei, die erst durch den Einsatz von 35 Polizeibeamten beendet werden konnte. Sechs von ihnen wurden bei dem Einsatz verletzt. Gegen 16 Uhr konnte ein Polizeipsychologe die Frau überzeugen, die Terrasse zu verlassen.
Peter Gauweiler (CSU) und die Selbstjustiz. Angesichts des Versagens der Gefängniswärter, die nicht verhindert hatten, dass der Angeklagte Mario M. gestern auf das Dach des Dresdner Gefängnisses klettern konnte, dürfe sich “niemand wundern, dass im Volk Gedanken an Selbsthilfe aufkommen.”
Von Klaus Modick eine erbitterte Mail über den gestrigen „Geisterbahn“-Eintrag zur Oldenburg-Reise.
Heute vor 53 Jahren wurde in Kassel die erste Fußgängerzone in einer deutschen Stadt eröffnet.
Tot: Robert Blum, Apollinaire, Dylan Thomas, Charles de Gaulle, Holger Meins, Yves Montand. Und gerade die Nachricht, dass Markus Wolf letzte Nacht gestorben ist.
Mittwoch, 8. November 2006 – Fünfuhrachtundvierzig, vierkommafünf. Dunkel
Am Montag mit dem Zug nach Oldenburg. Unterwegs Rostropowitsch mit Schumanns Cellokonzert gehört und in Bernd Schroeders „Hau“ gelesen.
“Wir bitten die Verzögerung zu entschuldigen; es befinden sich Kinder auf der Strecke”
Taxi zum Hotel. Der Fahrer spricht nicht. Nicht guten Abend, nicht danke, nicht auf Wiedersehen. So ist Oldenburg.
Hier müsste ein Zimmer auf den Namen Altenburg reserviert sein. – “Ha, darauf fall ich nicht noch mal rein.” – Wie bitte? – “Herr Schroeder hat auch schon nach Herrn Altenburg gefragt, aber hier ist für keinen Herrn Altenburg reserviert; wenn Sie das bitte ausfüllen würden, Herr Seghers.” – Ja, lustig.
Mit Schroeder und Modick im Hotelrestaurant. Dann rüber in den Kunstverein: „Verbrechen, die sich lohnen – Der Kriminalroman zwischen Kunst und Kommerz“. Schroeder sagt, dass „Hau“ ja gar kein Krimi sei. Ich wiederum bestehe darauf, dass Krimis keine Kunst sind. Na ja. Interessiert eh keinen. Sind sowieso nur zwanzig Leute gekommen. Und dafür fahren zwei Autoren durch halb Deutschland und verlieren zwei Arbeitstage …
Dienstag. Taxi zum Bahnhof. Der Fahrer redet die ganze Zeit auf mich ein. Er ist Tamile. So ist Oldenburg. Auf der Rückfahrt Rostropowitsch mit Dvoraks Cellokonzert und weiter in Bernd Schroeders „Hau“. “Wegen dringend nötiger Reparaturarbeiten wird sich die Weiterfahrt um cirka dreißig Minuten verzögern; wir bitten um Ihr Verständnis.”
Vor einhundertundneunzehn Jahren starb jung, aber in Frieden der Zahnarzt, Spieler und Revolverheld John Henry “Doc” Holliday.
Montag, 6. November 2006 – Sechsuhreinundzwanzig, achtkommasechs. Dunkel.
In der Alten Oper. Saint-Saens’ Cellokonzert und Tschaikowskis Rococo-Variationen mit Johannes Moser. Sehr gekonnt, sehr brav, sehr schön, zu schön. Und Bachs Allemande aus der Suite No.1 spielt er auch, als sei es Tschaikowski. Mit rein äußerlicher Innigkeit – wenn es so etwas gibt. Den Leuten gefällt’s.
Nazi-Spam aus dem Gästebuch löschen, noch mal in die Mails schauen, essen, kurz in den „Tatort“ gucken, aber nee, was ist denn das für ein Mist, lieber doch nicht, also dem jungen Joachim Kaiser auf BRalpha zuhören, oh Gott, nein, auch nicht auszuhalten. Aber bisschen Fernsehen wär schon schön. Aber was denn? Wollen wir warten, bis Gerhard Schröder bei Christiansen auftritt? Bist Du jetzt völlig verblödet? Hey, war ein Witz, okay?
Suchbegriffe heute Morgen um 5:52 Uhr: Singer Sargent, Joaquin Sorolla, Karl Hau, Thies Grebenstein, Kriminalroman, Untersuchungsrichter, Durchsuchung.
Tot: Tschaikowski, Luhman, Pit Krüger.
Sonntag, 5. November 2006 – Vierzehnuhrzweiundfünfzig, zehnkommaeins. Grau.
Ein Wort, das in seiner Idiotie kaum zu überbieten ist: Antifa-Solidemo.
Samstag: Deichsels „König Arthur“ im Schauspiel, Ralf Küsters Gingold-Film auf DVD, dann Hape Kerkeling im Fernsehen. Und noch ein wenig Schroeders „Hau“ im Bett. Darüber eingeschlafen.
Bei dem „Braunen Haus“ kann es sich nur um das Gebäude in der Gutleutstr. 8-14 handeln. Es nannte sich auch „Gauhaus der NDSAP“. Heute befindet sich das Hessische Landesinstitut für Pädagogik darin. Aber dass dort auch die KPD mal residiert haben soll …?
Seltsam, ausgerechnet in einem Interview mit Peter Gingold finde ich eine Stunde später die Lösung. Das „Braune Haus“ war nach 1945 KPD-Zentrale, nicht in den 20er Jahren: „In Frankfurt habe ich mich zuerst bei der Landesleitung der KPD-Hessen gemeldet, im ehemaligen Haus der NSDAP in der Gutleutstraße. Der Vorsitzende Walter Fisch erwartete mich …“
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hörte eine Frau bedrohliche Geräusche und Hilferufe aus der Parterrewohnung ihrer Eltern in der Fuldaer Straße 34 in Bad Soden-Salmünster. Aus Angst verbarrikadierte sie sich mit ihrer Tochter in der Wohnung im ersten Stock und rief die Polizei an. Gegen 2.10 Uhr wurde der Notruf registriert. Die wenige Augenblicke später eintreffenden Beamten fanden den 74jährigen Rentner Otto L. und seine 72jährige Frau blutüberströmt im Eingangsbereich ihrer Wohnung liegen. Ein herbeigerufener Notarzt konnte nur noch den Tod der beiden alten Leute feststellen. Beide Leichen wiesen zahlreiche schwere Kopfverletzungen auf. Bei der sofort eingeleiteten Großfahndung durchsuchten die Polizisten auch ein Kleingartengelände in der Nähe des Bahnhofs von Salmünster. Dort nahmen sie in einer Laube zwei deutschstämmige junge Männer (21 und 27 Jahre alt) aus Kasachstan fest. Beide trugen blutverschmierte Kleidung. Bei sich hatten sie eine Eisenstange, die sie offenbar als Einbruchswerkzeug benutzt und mit der sie dann, als sie überrascht worden waren, das Ehepaar erschlagen hatten. Einer der beiden Täter habe in derselben Straße wie die beiden Opfer gewohnt. In einigen Meldungen heißt es sogar, er habe in einer Mitwohnung gelebt, die der Familie L. gehörte.
Tot: Angelika Kauffmann, Wladimir Horowitz, Yitzhak Rabin.
Samstag, 4. November 2006 – Einundzwanziguhrvierundfünfzig, neunkommaein Grad. Vollmond.
Erst eine Runde durch den Park, dann weiter auf den Lohrberg. Die Büsche und Bäume schon luftig, überall Durchblicke. Vor den Mündern weiße Luft. Zitterkalt. Die Hunde zerren an den Leinen, wollen zurück ins Warme. Ein Obdachloser auf Wanderschaft, freundlich. Radfahrer mit Schals vor den Gesichtern. Wippende Kaninchen flüchten ins Unterholz. Und oben dann der Blick weit über die sonnigdunstige Stadt. Eine Stunde, vier Minuten. Brötchen.
Spuren verwischen!
Abends in Großen-Buseck, Katholische Gemeindebibliothek. Freundlicher, angenehmer geht es eigentlich nicht. Hat ja auch Gerd Steines vermittelt. Ein älterer Herr fragt mich, ob ich das „Braune Haus“ in Frankfurt kenne. Nee, nie gehört. Erst KPD-Zentrale, dann NSDAP-Hauptquartier, am Anfang der Gutleutstraße. Ist mir echt peinlich, werde sofort nachschauen.
Oft macht es Mühe, sich in einem neuen Blog zurechtzufinden. Fremde Begriffe, fremde Namen, fremde Scherze. Und das Bedürfnis der wenigen Eingeweihten nach augenzwinkerndem Einverständnis, also nach Ausgrenzung. Es genügt ihnen, mit den drei, vier Stammgästen ein paar Zauberworte auszutauschen. Kaum hat man diese Hürden überwunden, stellt man fest: Es war mal wieder nicht der Mühe wert.
Tot sind: Adam Lux, Mendelssohn-Bartholdy, Gustav Schwab, Fauré, Jacques Tati.
Freitag, 3. November 2006 – Neunuhrfünfzig, fünfkommadrei Grad. Sonnig.
Auf die Frage, ob sie ihren Mann noch liebe, antwortet T. ungerührt: „Wir sind ein gutes Team.“
Auf „Evas-Geschenke.de“ gibt es: das Doof des Tages.
Ein Tagebuch ist ein Alletage-Buch, das heißt, man hat sich für jeden Tag zu schämen, an welchem man seinem Journal keine Zuwendung schenkt. Wenn ich ein Internet-Tagebuch entdecke, das mich interessiert, dann aber feststelle, dass es über Wochen keine neuen Einträge enthält, erlahmt meine Aufmerksamkeit – wie bei einer Tageszeitung, die nicht täglich erscheint. Ich beginne, dem Autor zu misstrauen. Eine gewisse Notwendigkeit, ein gewisses nervöses Verhältnis zur Welt, zum Alltag gehören schon dazu.
Ein Manko vieler Blogs ist auch, dass deren Verfasser ihre Vorgänger nicht kennen. Sie wissen nichts von dem Jahrhunderte alten Genre des Tagebuchs und dessen formaler Vielfalt. Sie kennen nicht Samuel Pepys, nicht Kafka, nicht Cesare Pavese, nicht Knut Hamsun, nicht Sandor Marai, nicht Max Frisch, nicht Hermann Peter Piwitt – um nur die persönlichen Lieblinge zu nennen.
Wer Tagebuch schreibt, hat das Bedürfnis, seine Gedanken, Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle durch Sprache haltbar zu machen. Seltsam allerdings, dass ein dreihundert Jahre altes Tagebuch wie das von Pepys, das gar nicht für die Öffentlichkeit oder die Nachwelt bestimmt war, heute noch interessanter und unterhaltsamer zu lesen ist als die meisten Blogs, die doch nach Publikum geradezu gieren. Warum ist es Pepys gelungen, seinen Alltag mitteilbar zu machen, zu objektivieren? Warum gelingt das den Bloggern fast nie?
Auch ein Kommentar zum Thema Tagebuch: Wer die „Krambude seines Herzens andern zur Schau stellt“ ist ein „Gaukler“ (J.G.Herder in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“).
Und Jules Renard: „Nein, nein! Ich bin wie alle, und wenn es mir gelingt, mich im Spiegel genau festzuhalten, werde ich fast die ganze Menschheit sehen.“
Besorgen: Catherine Pozzis Tagebuch „Paul Valéry – Glück, Dämon, Verrückter“. Ennio Flaiano „Nächtliches Tagebuch“, Alfred Kantorowicz: „Deutsches Tagebuch“. Aber auch John Grishams „The Innocent Man“ – schon, weil der Roman von Kathrin Fischer empfohlen wird.
Tot: Georg Trakl, Henri Matisse, Thomas Brasch, dessen „Vor den Vätern sterben die Söhne“ ich gleich mal wieder aus dem Regal ziehen werde. (Bild: Filmplakat zu Braschs „Domino“ mit Katharina Thalbach)
Donnerstag, 2. November 2006 – Siebenuhrachtzehn, zweikommazwei Grad. Der Himmel, ganz oben: rot getüpfelt.
Die Sprache, ganz unten: „Know How Sharing für sozialdemokratische Webmaster“. Meine Güte, ja, das wird ihnen auch nichts nützen.
Dass ich die meisten Tagebücher im Netz nicht lesen mag, liegt nicht nur an deren Präsentation, am Design, der wirren Typographie, den vielen Verweisen, sondern auch an der Sprache, die flüssig nur noch zu lesen ist von den Angehörigen der jeweiligen Szene, in welcher der Autor sich bewegt. Eine wohltuende Ausnahme sind Andrea Dieners „Reisenotizen aus der Realität“ . Häufiger vorbeischauen werde ich künftig sicher auch bei „Chuzpe – das härteste jüdische Blog zwischen Tel Aviv und New York“. Und auf „Rebellmarkt“ findet sich der folgende deutliche Satz: „Wer ficken will, muss nett sein. Wer Leser will, muss erzählen.“
Nachtrag zu Dienstag. Dort, beim Empfang im Römer, ein Anwalt, der unter seinem Jackett einen Schal um die Hüften gebunden hatte. Und die Ansicht vertrat, Jan Ullrich sei selbst Schuld. Nicht, weil er gedopt habe, sondern weil er sich dabei habe erwischen lassen. Wenn man sich seine Hilfsmittel über einen Kassenarzt besorge, bei dem andere Kassenpatienten ein- und ausgehen, müsse man sich nicht wundern, wenn man im Wartezimmer gesehen werde. Wer so viel Geld verdiene wie der deutsche Radprofi, der müsse sich schon exklusiv betreuen lassen.
Tote am 2.November: 1975 wird der Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini am Strand von Ostia mehrmals von einem Auto überrollt. 1979 stirbt der Bankräuber Jacques René Mesrine an der Porte de Clignancourt im Kugelhagel der Polizei. 2004 wird der Filmemacher Theo van Gogh in der Amsterdamer Linnaeusstraat ermordet.
Mittwoch, 1. November 2006 – Achtuhrsiebenunddreißig, achtkommazwei Grad.
Im Oktober zum ersten Mal über 10.000 Passagiere in der Geisterbahn.
Lese, dass Peter Gingold – Frankfurter Jude, Kommunist, Widerstandskämpfer – am Samstag gestorben ist. Im März haben wir noch seinen 90.Geburtstag gefeiert. Beigesetzt wird er neben seiner Frau Ettie in Paris. Und gerade schickt mir Schimmel die Einladung zur Trauerfeier. Dann sehe ich, dass erst kürzlich ein Film über Gingold gedreht wurde – von Ralf Küster, einem jungen Bremer Regisseur. Ich google, finde seine Mailadresse, schreibe ihm, und schon wenig später ist die Antwort da.
Abends mit dem Rad in die dunkle Stadt, vorne und hinten die Flickerlichter. Dann, auf halber Strecke: Mist, ich habe die Einladung vergessen. Also zurück. Um kurz nach sieben am Römer. Chr. wartet schon. Der Empfang bei der Oberbürgermeisterin hat bereits begonnen. Wir schleichen in den Kaisersaal. Petra Roth redet. Ich schaue mich um. Das sind wir also, die „100 Frankfurter Köpfe“. Erkenne Frank Wolff, Arno Lustiger, und Simone Plitzko, diese Modedesignerin mit dem seltsamen BH, die am Montag schon bei der Pressekonferenz war. Ist das nicht, oh Gott, ja, Peter Zingler. Und wo ist Michi Herl? Da kommt er rein, das Haar frisch onduliert, und nennt mich lautlos: „Petze“. Kameras, Küsschenküsschen, grüne Soße, Rindswurst. Aber erst Mal die hundert Bücher signieren. Ok, geschafft. Gibt’s hier keinen Rotwein? Nee. Gehen wir noch in die „Sansibar“ zum Barolo-Club? Ach was, komm, ich bin müde. Aber dann stellt uns Norbert Rojan noch eine junge Frau vor, unprätentiös, nett, offen – es ist Anna Satvary, die Juniorchefin von Gref-Völsing. Na also, hat sich der Abend gelohnt. Aber wirklich gerne kennen gelernt hätte ich Bettina von Bethmann und Nadine von Mauthner. Verpasst.
Drei Soldaten der Lettow-Vorbeck-Kaserne in Bad Segeberg haben ihre Beteiligung an den Totenschändungen in Afghanistan zugegeben. Verglichen allerdings mit dem, was der Namensgeber ihrer Kaserne getan hat, ist das Vergehen dieser drei Idioten nicht anders als lächerlich zu nennen.
Im Juli 2003 wurde in einem Wald bei Eisenach die Leiche eines unbekannten jungen Mannes entdeckt. Erst zwei Jahre später, als die Angehörigen ihn endlich als vermisst meldeten, konnte der Mann identifiziert werden. Es handelte sich um einen 29-jährigen aus Grebenstein bei Kassel, der als „leicht geistig behindert“ galt. Heute nun beginnt vor dem Landgericht Kassel der Prozess gegen ein Ehepaar aus demselben Ort, das den jungen Mann über ein halbes Jahr wie einen Sklaven gehalten haben soll. Das Opfer wurde misshandelt, ihm wurde immer weniger zu essen gegeben. Man vermutet, dass die Täter es auf die Sozialhilfe ihres „Gefangenen“ abgesehen hatten. Anfang Juli 2003 sei dieser nochmals mit einem Hocker so stark geschlagen worden, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Die Eheleute beschlossen, den wehrlosen Mann mithilfe eines befreundeten Paares in Thüringen auszusetzen. Auf der Fahrt dorthin, so wird vermutet, ist er bereits gestorben.
Tot am 1.November: Alfred Jarry, Ezra Pound und Hoimar von Ditfurth.
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Ältere Einträge finden sich im Geisterbahn-Archiv
Dienstag, 31. Oktober 2006 – Fünfuhrsiebenunddreißig, achtkommaacht. Dunkel.
Gestern um 11 Uhr mit dem Mountainbike in die Stadt. Pressekonferenz bei Hugendubel für „100 Frankfurter Köpfe“. Wirklich toll geworden, das Buch. Auf dem Rückweg an den Jeansläden vorbeigezockelt, in die Fenster gelugt. Nee, gefällt mir alles nicht. Also doch waschen.
Die beiden Radprofis Erik Zabel und Jens Voigt wollen nach dem Ende ihrer Karriere gemeinsam einen Buchladen mit Raucherecke eröffnen. Sagt Zabel.
Stoße im Netz zufällig auf Kraussers Tagebuch „Deutschlandreise“ mit Illustrationen von Neo Rauch. Und jetzt begreife ich endlich Rauchs Bilder und ihren Erfolg: Er ist ein Illustrator. Wie Dali, wie Miro, wie Warhol.
Neulich, nach einer Lesung: „Von den Leuten, deren Todestage Sie in der Geisterbahn nennen, kenne ich fast nie einen.“ Was soll man sagen? Es gibt Menschen, die, egal welche Saite man bei ihnen anzuschlagen versucht, immer nur den Kopf schütteln. Sie kennen nichts; sie wissen nichts. Und das ist dann vielleicht doch zu wenig. Jedenfalls, um mit ihnen im Gespräch zu bleiben.
Tot sind heute: Egon Schiele, Max Reinhardt, Edouard Dujardin (nicht der Erfinder des Weinbrands, aber des „inneren Monologs“), Federico Fellini (Foto aus Amarcord), River Phoenix, Marcel Carné.
Montag, 30. Oktober 2006 – Dreiuhrdreiundfünfzig, elfkommasechs.
Am Freitagmittag über die flammend bunte Achterbahn des herbstlichen Knüllgebirges nach Oberaula. Erste Spielstraße rechts, hat er geschrieben, dann siehst du schon die Holzhütte, wo ich wohne. Es ist ein riesiges Blockhaus. Und R., nach fast fünfundzwanzig Jahren, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, fast unverändert, wie mir scheint – ein paar Fältchen mehr, ein paar Haare weniger. Aber sonst … derselbe Habitus, dieselbe Mimik, die alte, verhaltene Ironie. Ein wenig milder womöglich, grundiert von einer Spur Bitterkeit. War lange in Bremen, hatte dort einen Radladen, für zwei Jahre in Kirgisien, wo er deutschstämmige Baptisten unterrichtet hat, „faschistoides Volk“, dann gemeinsam mit Frau und Kindern dieses Haus gebaut, ach was, ein Hof fast, mit Weiden, Pferden, Hühnern, zwei riesigen Hunden, gutmütig beide zum Glück, die nun, da wir auf der Bank im Garten sitzen … Aber auch das ist jetzt alles vorbei. Bloß, wie loswerden, das Anwesen, zu einem wenigstens halbwegs angemessenen Preis, hier, wo sowieso jedes dritte Haus leersteht?
Nach Baunatal, erst ins Leiselfeld, später ins Rathaus zu Manfred, der jetzt hier Bürgermeister ist. Dann noch zu Fuß eine dunkle Runde für die Nerven und um 19.30 Uhr in die Stadtbücherei. Achtzig, neunzig Leute sind gekommen, alles sehr herzlich, sehr heimatlich – Fiete, Andrea, Larry und die halbe Klasse aus der THS. Bekannte Gesichter, fehlende Namen, kurze Wortwechsel. Erinnerst du dich noch? Hilf mir! Ach, na klar. Später dann in eine Kneipe, “Klimperkasten”, und A. erzählt von einem wirklich guten, unglaublich engagierten Lehrer, der immer wieder, über Jahrzehnte hinweg, sexuelle Beziehungen zu seinen minderjährigen Schülerinnen unterhalten habe, bis er nun endlich, kurz vor der Rente, in eine Schule für lernbehinderte Knaben versetzt worden sei.
Am Samstag auf die Autobahn – Regen, Baustellen, Unfälle. Dann in Dortmund durchfragen. Wagen ins Parkhaus. City-Hotel Mercure in der Kampstraße. Dritter Stock, mit dem Glasaufzug hoch. Duschen, umziehen, um 19 Uhr in die Mayersche Buchhandlung: „Die geschenkte Stunde“. Reinhold sitzt schon da, lacht, wir umarmen uns, er moderiert das Ganze, und nur, weil ich ihn gerne sehen wollte, hatte ich zugesagt. Um 20.15 Uhr geht’s los. Wir fahren mit dem Fahrstuhl runter, sehen den Zuschauerraum … Wie, das ist alles? Mehr Leute sind nicht gekommen? Dreißig Zuschauer? Na vielen Dank, und dafür der ganze Aufriss mit Musikern, Cocktailweltmeistern, Comedians und Dichtern …? Egal. Zuerst zwei nette Jungen, die auf ihrer Homepage („Frag Mutti!“) Tipps geben, wie man ein Kaugummi aus dem Teppichboden entfernt, wie man zu heiß gewaschene Wollsocken wieder in Form bringt … Die beiden sind gewitzte Schwaben, was sonst.
Ich lese aus der „Braut im Schnee“, dann die beiden Insel-Texte und zum Schluß „Hier aufreißen!“, wo es um die ewigen dummfeuchten Sexgeschichten in den Frauenzeitschriften geht. Als ich fertig bin, verziehe ich mich wieder in die Bistrolounge und merke, dass irgendwas nicht stimmt. Anne West, die in einer halben Stunde auftreten wird, über die ich aber nichts weiß, schaut mich an, ernst, ein wenig blass. Dann sagt sie, dass sie jahrelang die „Sextante von Cosmopolitan“ gewesen sei, und dass Frauen solche Texte mögen … Uff, habe ich also einen Volltreffer gelandet, ohne es zu wollen. Am Ende Antonella und Joppich mit ihrem wunderbaren italienischen Liebes-Programm. Es ist, als ob ein Aufatmen durchs Publikum geht: mal keine Simulation, mal keine Mitmach-Show, einfach Geschichten, Lieder …
Und am Sonntagmorgen auf der fast leeren A 45 zurück. Durchs Sauerland, Richtung Südosten, dem Tag, der Sonne entgegen. Wie schön, dieses Land …
Tote: Maximilian Harden, Emmerich Kálmán, Georges Brassens („Bitte, am Strand von Sète bestattet zu werden“), Samuel Fuller.
Freitag, 27. Oktober 2006 – Vieruhrsiebenundzwanzig, fünfzehnkommafünf Grad.
„Warum wachst Du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß dasein“ – (Kafka)
Im Traum eine weite Ebene, Schneeflecken auf den schwarzen Äckern. Und in der Ferne vor dem hellen Himmel acht ebenfalls schwarze Bäume – die Stämme wie Arme, die Kronen wie Hände, die Äste wie gespreizte Finger. Oder sind es gar keine Bäume, sind es wirklich vier Riesen, die man dort eingegraben hat und die jetzt ihre toten Arme gen Himmel strecken? Blakende Hütten. Reiterspuren im Schnee, im Schlamm. Und neben mir, über den Graben hinweg, am Feldrand ein schwarzer, unförmiger Haufen, der plötzlich anfängt sich zu bewegen. Schreiend renne ich davon.
Kaum wach, sitze ich schon wieder vor dem La Veilleuse. Es liegt an den parallelen Lektüren, dass ich in Gedanken ständig in Belleville bin. Boves „Meine Freunde“, dann die Paris-Bücher, die mir Jürgen empfohlen hat, Millers „Stille Tage in Clichy“, Hemingway: „Ein Fest fürs Leben“. Und vor allem die Erinnerungen Simone Berteauts, der Halbschwester von Edith Piaf: „Ich hab gelebt Mylord“. Und wenn mir jemand seine liebsten Paris-Bücher nennen mag … das Gästebuch freut sich.
Gerade stoße ich auf molochronik – wirkt auf den ersten Blick ein wenig wirr und krude, aber immerhin reichlich Hinweise auf andere Blogs, die vielleicht einen zweiten Blick lohnen.
Seltsame Reihe von Toten: Walter von Molo, Willi Bredel, Rex Stout, James M. Cain (“The Postman Always Rings Twice”), Rafael Alberti.
Donnerstag, 26. Oktober 2006 – Achtuhrzweiundfünfzig, elfkommafünf. Sonnig.
Vor vier Uhr aufgewacht durch das unentwegte Lärmen der Martinshörner. Wahrscheinlich hing der Einsatz mit der Geschichte in Königstein zusammen: Ein 35jähriger hat gestern am Abend seine 69jährige Nachbarin in deren Wohnung aufgesucht und sie dann in seine Gewalt gebracht. Um fünf Uhr heute Morgen wurde die Geiselnahme durch eine aus Frankfurt angerückte Spezialeinheit beendet. Der Mann wurde angeschossen, aber nicht lebensgefährlich verletzt.
Gremliza zitiert im neuen „Konkret“ die Bestsellerliste des „Spiegel“:
1. Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg
2. Joachim Fest: Ich nicht
Der Tag: Deutscher Soldat in Afghanistan zeigt nackten Penis neben Totenschädel – Petra behauptet, sie heiße Maria Gonzales und sei von ihrem spanischen Vater in Barcelona gefangengehalten und missbraucht worden – Ein Fünftel aller Südafrikaner hat schon mal vergewaltigt – Wieder 5,5 Tonnen verdorbenes Fleisch beschlagnahmt – Unbekannter wollte zwei Mädchen entführen – Mann springt in Suizidabsicht vor S-Bahn – Geldstrafe für Kuranyi – Kurt Cobain verdient mehr als Elvis Presley – Frau von 35 Kilogramm schweremTumor befreit – Riesenauswahl an XXX-Filmen, die alles zeigen – Ist Daisy jetzt bei Mosi im Himmel? – DiBa, DiBa du …
Tote: Walter Gieseking, Nikos Kazantzakis, Elisabeth Flickenschildt, Rex Gildo, Siegfried Unseld.
Mittwoch, 25. Oktober 2006 – Zwölfuhrneunundfünfzig, vierzehnkommanull Grad. Sonnig. „Bild“: Der wärmste Oktober aller Zeiten.
Traum. Allein mit mir im Zugabteil, auf dem Platz gegenübersitzend: eine dicke freundliche Frau im schwarzen Kostüm. Immer wieder berührt sie mit ihren Nylons wie zufällig mein Knie. Ich schaue ihr in die Augen. Plötzlich ist es, als ob ihr teigiges Gesicht von Geilheit entzweigerissen wird. Sie öffnet ihre grell geschminkten Lippen, streckt die Zunge heraus und bewegt sie rasch hin und her. Und ist im nächsten Augenblick erloschen.
Gestern mit dem guten Herl im „Horizont“, Couscous, Merguez, Trester … Nein, nicht mehr davon, er hat ja Recht: ein wenig muss man auch für sich behalten. Aber schön, als zum Schluss noch das neue Album von Khaled lief.
Mord in 2634 Fällen – Den Zollbeamten auf dem Münchner Flughafen ist ein außerordentlich umfangreiches Reisegepäck aufgefallen. Bei der Kontrolle stellte man fest, dass sich in den zahlreichen Kühltaschen und Plastiktüten 2634 tote Wiesenpieper (Foto) befanden, streng geschützte Singvögel, die von Rumänien aus in ein italienisches Restaurant transportiert werden sollten.
Außerdem tot: Hans Knappertsbusch, Mary McCarthy. Und der Sportreporter Heinz Maegerlein, der 1959 den schönen Satz sagte: „Tausende standen an den Hängen und Pisten.“
Dienstag, 24. Oktober 2006 – Zehnuhrfünfundfünfzig, sechzehnkommazwei. Sonnig. Stürmisch.
Der kleine Marvin, der kleine Kevin, die kleine Jessica, die kleine Levke, der kleine Pascal, die kleine Natascha, der kleine Dennis, die kleine Adelina, der kleine Jakob, die kleine Peggy, der kleine Christian, die kleine Julia, der kleine Joseph, die kleine Jennifer, der kleine Tobias, die kleine Angelina, die kleine Natalie, die kleine Ayla, die kleine Vanessa … Das kleine Gritli.
Ein Korrespondent der russischen Zeitung Kommersant gibt Wladimir Putins Worte über den israelischen Präsidenten Katzav wieder: „Er hat sich als starker Mann erwiesen. Zehn Frauen hat er vergewaltigt. Das hätte ich nie von ihm erwartet. Er hat uns alle überrascht. Wir sind alle neidisch.“ Das wundere sie gar nicht, sagt Chr., als ich ihr die Meldung vorlese, genau so habe sie die russischen Männer kennengelernt.
Nach Protesten von Umweltschützern haben sich Deutsche Bank und Hypovereinsbank aus der Finanzierung des bulgarischen Kernkraftwerks Belene zurückgezogen. Das „Reputationsrisiko“ sei zu groß gewesen. Ein schönes Wort. Es besagt, dass man einerseits bereit ist, jede Schweinerei mitzumachen, wenn andererseits der zu erwartende Schaden nicht größer als der Nutzen ist, den man daraus zu ziehen hofft.
Tot: Dutch Schultz, Ernst Barlach, David Oistrach. Hermann Langbein. Und Rosa Parks (Foto), die einmal im Bus nicht aufstehen wollte, was große Folgen hatte.
Montag, 23. Oktober 2006 – Vieruhrsechsunddreißig, fünfzehnkommacht Grad. Es wird Frühling.
Am Samstag nach Bammental im Elsenztal. Evangelisches Gemeindehaus. Während ich so auf der Bühne rumwerkele – Sprechprobe, Lichtprobe, Sitzprobe – sehe ich unten im Saal: Agnes, lachend, mit einer Freundin. Dann, als ich gerade noch ein paar Schritte gehen will, kommt Iris zur Tür herein. Draußen Ludwig und Rainer Justke. Und für einen Moment denke ich, wenn es so ist, ist es doch der schönste Beruf der Welt: Man zieht so ein bißchen durchs Land, trifft alte Freunde und bekommt Geld dafür. Lesung mit Musik, dann Buffet, dann mit Ludwig zum Griechen, Ouzo undsoweiter. Schwer ins Hotelbett. Und am Morgen: Nebel über dem Kraichgau und im Kopf. Schöne Gegend hier.
Immer wenn ich Herrn Ronald Pofalla sehe, habe ich den Eindruck, dass er es gar nicht ist, sondern Hape Kerkeling, der nicht viel mehr tun musste, als eine Brille aufsetzen und sich ein wenig dümmer stellen als er ist, um so auszusehen wie ein CDU-Generalsekretär.
Im Fernsehen der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Man müsse trotz alledem am Ziel der Vollbeschäftigung festhalten, sagt er. Alles Lüge. Als wisse er nicht genau, dass unter den herrschenden Verhältnissen jedes Unternehmen vor allem ein Interesse hat: Leute zu entlassen. Er weiß es, aber er will es nicht wissen, denn sonst müßte seine Organisation eine andere Politik machen.
Anruf aus den Tiefen des Alls: Yoshihiro. Ob er denn inzwischen wisse, wo er seine Doktorarbeit schreiben werde? – “Mmmh, ja, noch nicht so ganz sicher.” – Ob er denn nun doch in Deutschland bleiben wolle? – “Mmmh, ja, schwierig, vielleicht.” – Ob man sich nicht mal wieder treffen wolle? -“Ja, mmmh, mal sehen, schwierig.” Es ist seit Jahren der selbe Dialog. Nur die Abstände werden größer.
Gerade auf Telepolis ein Zitat aus dem “Disziplin”-Artikel gefunden. Mit einem hübschen Fehler. Statt von den “gescheiteren” ist dort von den “gescheiterten” Teilen des nachwachsenden Bürgertums die Rede. (… Und … schon korrigiert!)
Tot sind heute: Georg von Siemens, Oskar Werner (Bildmitte in „Jules und Jim“), Lino Ventura, Marianne Hoppe.
Samstag, 21. Oktober 2006 – Sechsuhrfünfundvierzig, fünfzehnkommavier, immerhin. Dunkel. Das Fenster weit offen.
P: „Was machst Du denn da?“ – Ich schreibe mein Internet-Tagebuch. – „Aber dann kann das doch jeder lesen.“
Wenn ich etwas mag, dann sind es Meldungen wie diese: „Frau verschickt aus Versehen ihre Katze im Paket.“
Der Mord von Annaberg-Buchholz ist geklärt. Ein 52 Jahre alter Mann hat seinen 69jährigen Nachbarn erschlagen und dann die Leiche zerteilt. Der Beschuldigte fühlte sich durch den Lärm des alten Mannes belästigt. Die Polizei kam dem Täter auf die Spur, weil auf einem der Müllsäcke, in denen die Leichenteile verpackt waren, ein Fingerabdruck gefunden wurde.
Längst vergessene Kostbarkeiten, ach was … Schätze findet man manchmal im eigenen Regal. Gestern also Ginette Neveus Aufnahme von Beethovens Violinkonzert mit dem Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden unter Hans Rosbaud, aufgenommen im September 1949, dreieinhalb Wochen vor ihrem Tod. Und wo ist Neveus Grab? Auf dem Père Lachaise, wo sonst. Aber wie kann das denn sein? Ist denn ihr Leichnam nach dem Flugzeugabsturz geborgen worden? … Ah ja, hier ist die Antwort: „It is said that Neveu’s body was found still clutching her precious Stradivarius violin. She was 30.“
Ein paar Mal gehört: Paavo Järvis gerade erschienene Aufnahme von Beethovens dritter Sinfonie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Aber nein, das ist mir zu wuchtig, trotz der straffen Spielweise. Das Allegro und das Scherzo nimmt Järvi sogar schneller als Norrington mit den Stuttgartern … Gott, was rede ich denn hier?
Heute tot: Bertha von Suttner. Hermann Essig, der expressionistische Schriftsteller und Großvater von Rolf-Bernhard. Klaus Schwarzkopf. John Lee Hooker. Leon Uris.
Freitag, 20. Oktober 2006 – Achtuhrvierzehn, dreizehnkommavier. Trübe. Kopfschmerz.
Gestern am Nachmittag kommt Jan. Ernster Blick. Dass er mit mir reden müsse. Ja, ist denn was passiert? Nee, nee, er will nur die Termine abstimmen. Und schon kommen wir ins Reden, sind wieder bei den Comics und anderen Obsessionen. Und verplaudern uns für eine Stunde. Ich sei ja wohl obsessed von den Nazis. Bin ich? Ja, ähnlich wie die Engländer, sagt er. Er habe als Kind immer geglaubt, die Nazis seien eine fremde Macht gewesen, die Deutschland mit ihren knallenden Stiefeln erobert und dann unser Volk gezwungen habe, auf ihrer Seite zu kämpfen. Und uns damit ins Verderben gestürzt …
Abends mit Atilla in die Kaiserstraße Nummer 23. Ausstellungseröffnung in der American Apparel Gallery. Isabelle Fein: Drawings. Wie, das ist doch gar keine Galerie, ist ja wirklich eine Boutique. Ja, nein, die Galerie ist unten. Enge Wendeltreppe in den Keller. Vorne gleich ein Tisch mit Bionade, Rothaus und Wein. In der Ecke zwei Körbe mit kleinen Brezeln. Ok, das ist geklärt. Weißer Raum und rundum so ein paar bemalte Zettelchen an den Wänden und hinten ein versonnenes Video. Alles wirkt so lässig hingehuscht. Understated. Überall Mädchen mit Stilettos und Stulpenstiefeln. Die machen auf Achtziger, sagt Atilla. Dünne Typen, die alle auf dieselbe gezierte Weise ihr Tannenzäpfle halten. Und die Zähne blecken. Kurzes Aufleuchten in den Augen, wie auf Bestellung, dann wieder blasiert-bescheiden die Lider senken. Die reden nicht nur einfach miteinander, die positionieren sich. Plötzlich müssen wir lachen, weil wir gleichzeitig auf drei Jungmännerhintern schauen, die praktisch nicht vorhanden sind, wo die Jeans sich hinten nicht wölbt, sondern in einer großen Falte vollkommen leer nach unten fällt. Aber auch ein Typ, der aussieht wie die Kreuzberger Hausbesetzer vor zwanzig Jahren – schüttere Irokesenbürste, Militärklamotten, könnte auch vom Alter stimmen – Avantgarde der ersten Stunde, sozusagen. Dann kommen die Zwillinge die Treppe herunter, wie immer in Schwarz, mit ihren Männern. Küsschen, Küsschen. Aber warum so blasse, verwehte Blicke? Die nette Fotografin mit ihrem riesigen Apparat. Muss ja alles reinpassen, muss ja alles festgehalten werden. Das Ganze erinnert an die Künstlerszenen in den Romanen von Flaubert und Maupassant. An der Säule hängt eine Zeichnung mit zwei verwischten blassen Figuren: zwei Jungen in Uniform. – Guck mal, das ist Adolf, sagt Ati. – Nee, kann nicht sein, der eine trägt doch einen Davidstern. – Oh. – Ein Typ mit Kappe, vergleichsweise alt, steht vor demselben Bild, dann wendet er sich in den Raum und ruft: „It’s a Master-Werk, it’s really a Master-Werk.“ Er sagt nicht “work” oder “piece”, er sagt “Werk”. Aber er hat Recht, es ist wirklich nicht schlecht. Wir schlagen vor, dass wir hier doch auch mal auftreten könnten, und ein paar Bilder ausstellen. Ja, vielleicht, aber da müsse man vorher erst mal sehen, was wir eigentlich so machen. Och nö, sagen wir, dann lieber nicht. Und tun so ein bisschen verschnöselt: Uns kauft man blind oder gar nicht! Wenn man uns schon nicht kennt … Na, dann gehen wir mal lieber, bevor wir hier die Letzten sind.
Hinterher Kontrastprogramm. Erst wollen wir in die „Bierstube“, die ich immer „Weserstübchen“ genannt habe, obwohl sie in der Elbestraße Nummer 18 liegt. Aber jetzt ist alles dunkel und leer. Scheint abgewickelt zu werden. Muss denn jede Schönheit nieder gewalzt werden …? Also in die Moselstraße 21. Hier war ich das letzte Mal mit Florian – vor ein paar Jahren, um Weihnachten herum, nachdem wir zusammen mit der Bündischen Jugend auf dem Meißner waren, auf Burg Ludwigstein, wo kurz zuvor der Archivleiter eine Angestellte umgebracht und dann die Leiche in einem Steinbruch in der Nähe von Witzenhausen versteckt hatte.
Also Mosel-Eck. Der Kellner, ein nervöser Rattenzahn mit Kettchen und Brusthaaren, unruhiger, flirrender Blick. Die dicke Bedienung im Netzpulli, ein Gesicht, so breit und gemütvoll, dass man drauf Platz nehmen möchte. Im Fernsehen läuft Fußball. Neben uns am Tisch sitzt allein ein sauber gekleideter Mann mit Aktentasche. Er redet und gestikuliert, stumm, hadert mit irgendwem, den wir nicht sehen. Ist das Einsamkeit? Ja, und ein paar Schläge hat man ihm wohl auch versetzt. Irgendwann steht er ruckartig auf, nimmt seine Tasche und ist in der nächsten Sekunde verschwunden. Ein bulliger, bärtiger Lächler im Rentier-Pulli setzt sich auf seinen Platz. Daneben ein kugeliger Kleiner, die Hosen bis über den Bauch nach oben gezogen – sie sehen aus wie die Autoschieber in den französischen 50er-Jahre-Filmen. Ein paar Eintracht-Anhänger in Fan-Montur. Einer ganz und gar tätowiert, mit Bomberjacke und Knobelbechern. Und dann kommt ein Mann rein, die Augen geschlossen oder immer so blinzelnd, setzt sich gleich vorne an die Theke, bestellt, trinkt, brabbelt ebenfalls ins Leere, zwinkert, ist vielleicht blind oder fast blind. Und trinkt und trinkt und trinkt. Und vor den flickernden Spielautomaten steht eine Kollegenrunde von Biedermeiern – auf Safari durch die Wildnis des Frankfurter Nachtlebens. Mal eine Nase voll Verruchtheit schnuppern. Huh. Komm, lass uns gehen.
Zuhause noch mal ins Netz und diesen grauenhaften Text gefunden: „Der Fashion-Retailer American Apparel verfolgt nicht nur ein recht ungewöhnliches, visuelles Präsentationskonzept seiner Produkte, sondern setzt auch in Sachen Kunst auf Nonkonformistisches. In seiner „American Apparel Gallery“ in Frankfurt präsentiert das trendige US-Unternehmen nun Arbeiten der Frankfurter Nachwuchskünstlerin Isabelle Fein. Zwischen dem 20. Oktober und dem 30. November werden hier in erster Linie Zeichnungen und Malereien der 33-Jährigen zu sehen sein, die sich bisher als wahres Multitalent der Kunst einen Namen gemacht hat. Neben dem von ihr herausgegebenen Whistler Magazin zeichnet sie sich auch für eine ganze Reihe an Kurzfilmen verantwortlich, ist Autorin, Regisseurin, Redakteurin, Malerin und Fotografin in einem. Wer also das charmanteste Rundum-Sorglos-Paket der deutschen Kunst erleben möchte, sollte sich die Ausstellung, die unter dem Motto „Invisible Geometries“ steht, nicht entgehen lassen. Der Eintritt ist nämlich frei.“
Da wollen sie „Nonkonformistisches“ präsentieren und finden dafür nur die abgenutzten Worte eines Volontärs von der “Abendschau”. Von wegen: “wahres Multitalent”, “zeichnet sich verantwortlich”, “einen Namen gemacht”, “Rundum-Sorglos-Paket”. Puh!
Tot sind Klaus Störtebecker, Bruno Cassirer, Franz Tumler.
Donnerstag, 19. Oktober 2006 – Elfuhrneununddreißig, vierzehnkommafünf. Bedeckt, grau, trüb, öde, langweilig. Im Hintergrund “Blood on the Tracks”. Nützt auch nichts.
Seltsam, am 12.Oktober stieß ich auf die Geschichte der Krankenschwester Edith Cavell, die 1915 von den Deutschen als Spionin hingerichtet wurde, und jetzt lese ich, dass Edith Piaf, die acht Wochen später zur Welt gekommen ist, nach dieser Frau benannt wurde. Und gerade entdeckt, dass der Sohn des Boxers Marcel Cerdan ein Buch geschrieben hat: „Piaf et moi“.
Der österreichischen Zeitung „Kurier“ zufolge beschreibt das Pflegepersonal von Ebene 7 (der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie) des Wiener Allgemeinen Krankenhauses seine Patientin Natascha Kampusch als eine “ziemlich herrische Prinzessin ohne Bitte und Dankeschön”.
„McCabe & Mrs. Miller“ von Robert Altman. Langweilig. Geläufig. Einfallslos. Nur die wenigen Außenaufnahmen bieten kleine Erfrischungen – struppig, verschneit, verrottet. Und Warren Beatty ist der Klotz, der er immer ist. Kurz vor Schluß abgebrochen. Nicht diese zehn Minuten auch noch an einen schlechten Film verschenken, dessen Ende einem sowieso egal ist.
Selbst das, was man vom neuen Bode-Museum im Fernsehen zu sehen bekommt, ist so betörend schön, dass man fast ein wenig Angst hat, es in Wirklichkeit anzuschauen.
Ist „innewohnt“ eigentlich ein schönes oder wenigstens ein akzeptables Wort? Oder ist es so oldfashioned, ungelenk, dass es auf die Liste gehört? Und warum habe ich dazu kein sicheres Urteil?
Vor vierundneunzig Jahren starb der schweizerische Unternehmer Julius Michael Johannes Maggi (sprich: Madschi). Wer das Rezept der nach ihm benannten Würze wirklich herausfinden will, muss in den Tresor der „Schweizerischen Kreditanstalt“ einbrechen, wo es hinterlegt ist.
Mittwoch, 18. Oktober 2006 – Zehnuhrzwölf, zehnkommazwei Grad. Bewölkt.
Mich gestern für Stunden verloren: In der Geschichte jenes 18.Oktober 1977, als die „Landshut“ in Mogadishu gestürmt wurde, als man die vier Stammheimer Häftlinge tot in ihren Zellen gefunden hat und Hanns-Martin Schleyer erschossen wurde. Im Netz rumgesucht, aber die Frage nicht beantworten können, ob die Frankfurter Musikerin und Künstlerberaterin Suse Michel die Tochter von Andreas Baader ist – Jedenfalls wurde 1965 ein Mädchen diesen Namens als seine Tochter geboren.
Dann ein langes Interview mit Marcel Reich-Ranicki von Bettina Röhl, der Tochter Ulrike Meinhofs. Und hinterher auch noch das Gespräch, das sie mit Raddatz geführt hat, wo sich der idiotische Satz findet: „Man muss die Emphase eines Verbrechers haben, um ein großes Kunstwerk zu schreiben.“ Aber so sind sie halt, die Bewunderer Dostojewskis.
„Edith et Marcel“. Eine halbe Stunde braucht der Film, um in Gang zu kommen, aber als dann die Liebe zwischen dem Boxer und der Sängerin beginnt, ist er so hinreißend charmant, zeigt er uns die Helden in ihrer ganzen unschuldigen Hingabe für einander, dass man die restliche Zeit der 156 Minuten hofft, diese wahre Geschichte möge nicht so enden, wie wir doch von Anfang an wissen, dass sie enden wird: mit dem Tod Cerdans, der bei einem Flugzeugabsturz über den Azoren ums Leben kommt. Er saß in derselben Maschine wie die Geigerin Ginette Neveu. Gespielt wird Marcel Cerdan von seinem ältesten, 1943 geborenen Sohn. Und gleich Lust, den Film noch einmal von vorne anzuschauen, weil man nicht genug bekommt von diesen Gesichtern und von dieser Kraft, die vielleicht jeder unbedingten Liebe innewohnt.
Tote: Hanns-Martin Schleyer, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe.
Dienstag, 17. Oktober 2006 – Dreizehnuhrzweiunddreißig, elfkommaneun. Sonnig.
Na klar, es gibt einen Film über die Piaf, sogar von Claude Lelouch: „Edith et Marcel“. Steht im eigenen DVD-Regal und wird heute Abend geschaut.
„Tja“, sagt der alte Freund und grinst mich so ein wenig mitleidig-schief von unten an, „da ist ja wohl nun auch die Zeit drüber weggegangen.“ Tja. Aber was, wenn die Welt, das alte Schwein, noch immer dieselbe ist wie damals, als wir das, was heute immer noch wahr ist, auch wahrhaben wollten.
Einer Studie der „Friedrich-Ebert-Stiftung“ zufolge gehören 6,5 Millionen Bürger zur „neuen Unterschicht“ in Deutschland. 46 Prozent der Menschen würden ihr Leben „als ständigen Kampf“ empfinden. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck griff die Ergebnisse der Studie auf, zeigte sich besorgt und meinte: „Manche nennen es Unterschichten-Problem“. CDU-Fraktionschef Kauder lehnt diese Formulierung strikt ab. Wie nennt er es? Klassengesellschaft? Ach nein: „Ich spreche lieber von Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen“. Auch viele Sozialdemokraten halten, wie es heißt, Becks Formulierung für unglücklich, da diese indirekt die rot-grüne Regierungspolitik diskreditiere. Sonst noch jemand irgendwelche Sorgen?
Die Zahl rechter Straftaten hat, wie der „Tagesspiegel“ meldet, in den vergangenen zwei Jahren um 50 Prozent zugenommen.
Vielleicht brauchen wir ja wirklich eine Elite. Aber wie wäre es endlich mal mit einer nicht-zynischen Elite, mit einer, die ihre Privilegien als Auftrag versteht.
Tote: Chopin, Wieland Wagner, Pu Yi, Ingeborg Bachmann, Jean Amery, Helmut Gollwitzer, Julius Hackethal.
Montag, 16. Oktober 2006 – Fünfuhrvierundzwanzig, siebenkommasieben. Der schmale Mond liegt auf dem Rücken wie ein Hund, der gekrault werden will.
Samstag und Sonntag kein Eintrag und damit verpasst: die Todestage von Hannah Arendt und Mata Hari. Aber wann sonst hätte man schonmal Gelegenheit, diese beiden in einer Zeile zu nennen?
Gestern um halbsieben aufgewacht, zehn Grad. Das Badewasser nur lau. Ist die neue Heizung schon wieder kaputt? Um 8.15 in die Rotlintstraße, Lutz und Carsten abholen. Dann nach Seckbach, wo Atilla und Alex zu uns stoßen. Niederdorfelden, Anmeldung, Mohnkuchen, Kaffee, Foto mit der größten Lokomotive, die es bislang gab. Aber schon kurz nach dem Start ist die Gruppe gesprengt. Schleife durch den Main-Kinzig-Kreis, immer wieder der Blick auf Gelnhausen. An der zweiten Kontrollstelle, kurz vor dem langen Anstieg nach Wittgenborn, will Flo nicht länger warten und fährt alleine los. Weiter durch den Büdinger Wald und über die Ronneburg zurück. Starke Kopfschmerzen, zu wenig getrunken. Als wir wieder in Niederforfelden ankommen, sehen wir Flo, der entkräftet auf dem Lenker liegt, hat sich übernommen nach seiner Verletzungspause. Nach Hause über die Hohe Straße. Telefonieren, duschen. Mit dem Mountainbike auf den Lohrberg, aber die Beine jetzt so schwer. Bei Lutz im Garten. Jörg ruft Biker an, der tatsächlich kommt: schlank fast, glücklich, grinsend. Um halbacht zu Hause. Cirka 150 Kilometer gefahren. Schlafe vor der Tagesschau ein.
Tot sind Lucas Cranach d.Ä. (Bild: “Judith”) und Marie Antoinette. Hingerichtet in Nürnberg: Hans Frank, Wilhelm Frick, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyss-Inquart, Julius Streicher.
Freitag, 13. Oktober 2006 – Elfuhrfünf, siebzehnkommazwei. Regnerisch.
Gestern „Ein kleiner Abend Glück“ in der Marienschule in Offenbach. Gutes, freundliches Publikum. Hinterher völlig gerädert. Waren mal wieder zu viele Menschen in den letzten beiden Wochen. Halte ich nur noch unter Schmerzen aus und bin dann so nachhaltig erschöpft, dass tagelang kein Gedanke mehr greifen will. Asozialisierung.
Vor drei Wochen waren in einem Wäldchen im Erzgebirge vier Müllsäcke mit Leichenteilen entdeckt worden. Die Identität des Opfers ist geklärt: Es handelt sich um einen seit Ende Juli vermissten 69jährigen Rentner aus Annaberg-Buchholz, der als “Flaschensammler” bekannt war. „Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus.“ Ah ja.
In Parey/Sachsen-Anhalt zwangen drei Schüler einen 16-jährigen ein Schild vor sich herzutragen mit der Aufschrift: „Ich bin im Ort das größte Schwein, ich lasse mich mit Juden ein.“
Edith Piaf hat für die Nazis getanzt und gesungen. Und sie hat, was man so hört, auf deren Schößen gesessen. Warum eigentlich bin ich mit ihr so nachsichtig? Vielleicht, weil sie mir so ganz und gar wie eine Filmfigur vorkommt, wie ein geprügeltes Straßenmädchen, das, bewusstlos immer nur auf die nächste Mahlzeit aus, jede Uniform anhimmelt, in der Hoffnung, es möge sich lohnen. Und wer könnte diese Rolle spielen – außer ihr selbst? Gibt es eigentlich einen Film über sie?
Heute vor einem Jahr ist István Eörsi gestorben.
Donnerstag, 12. Oktober 2006 – Dreizehnuhrfünfundfünfzig, siebzehnkommaneun. Schön. Sonnig.
Eine „Tendenz zur Gewalt“ sei verantwortlich für die zahlreichen Schießereien an amerikanischen Schulen, meint Laura Bush, die Gattin des US-Präsidenten. Und dass viele Leute gerne etwas essen, liegt wohl an der: „Tendenz zum Hunger“.
Nicht die Stotterer machen mich nervös, sondern die Eloquenten. Und wenn ich sie durchschaut habe, werde ich müde, fliehe in die Erschöpfung. Und schlafe dann auch wirklich manchmal, noch am Tisch mit ihnen sitzend, ein.
In Civitella, einem kleinen Dorf in der Toskana, haben am 29.Juni 1944 Angehörige der SS ein Massaker veranstaltet: Sie töteten 207 Bewohner durch Genickschüsse. Einer der damals Beteiligten, der heute 84-jährige Max Josef Milde, wurde jetzt von einem Militärgericht in La Spezia in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Wo hält er sich auf? Und warum findet man keinerlei Informationen über ihn?
Jürgen Busche zitiert den englischen Kritiker Sidney Smith: “Man darf Bücher nicht lesen, bevor man sie rezensiert, man wird sonst zu voreingenommen.”
Tote: Edith Cavell (Krankenschwester, 1915 von den Deutschen als Spionin in Anwesenheit des Arztes Gottfried Benn erschossen), Alfred Kerr (Theaterkritiker, “Die Vorstellung begann um acht Uhr, als ich zwei Stunden später auf die Uhr schaute, war es 8.30 Uhr”). Michael Horlacher (CSU-Politiker, “Als Einzelne wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, aber in der Masse wie Unkraut”). Arnolt Bronnen (Freund von Brecht, dann Nazi, dann kommunistischer Bürgermeister von Bad Goisern). Bernhard Minetti (Schauspieler).
Mittwoch, 11. Oktober 2006 – Fünfuhrneunundvierzig, zwölfkommazwei. So kalt fühlt es sich gar nicht an. Dunkel.
Nach zwölf, dreizehn Jahren ein Anruf von L. Aber er gehört zu jenen, die so sehr dazugehören, dass der zeitliche Abstand im Gespräch nichts bewirkt, jedenfalls keine Peinlichkeit. Und immer noch ist er auf eine so angemessene Weise zugleich verzappelt und direkt, dass einem jeder ausformulierte Satz wie eine Eitelkeit vorkommt und wie eine Anmaßung gegenüber einer Wirklichkeit, die in solchen Fertigkeiten schon lange keine Entsprechung mehr findet. Wandern würde er gerne, sagt er, als ließe sich damit sein Leben zusammenfassen.
„Neue Vogelart in den kolumbianischen Anden entdeckt.“ Aber was heißt hier „neu“? Wahrscheinlich lebte dieser kleine Buntfink schon über Jahrtausende unbehelligt im Nebelwald. Und „entdeckt“? Entdeckt ja wohl bloß von der Vernichtungskreatur Nummer 1, dem Menschen, also: ihm ausgeliefert. Denn wahrscheinlich bedeutet diese angebliche wissenschaftliche Sensation ja doch nur den Anfang vom Ende auch dieser Art. Ah, da haben wir es schon: „Die Forscher fingen zwei der neuen Finken ein, von denen einer in Gefangenschaft starb. Der andere wurde freigelassen, nachdem er ausgiebig fotografiert worden war. Auch DNA-Proben wurden genommen.“ Wäre der kleine Fink Jan Ullrich, hätte er sich das verbeten: „Ich bin doch kein Mörder.“
Immer wieder dieser Tage: Klemperer mit Brahms’ Dritter. Degenhardts „Dämmerung“. Dylans „Modern Times“. Entnervt aufgegeben dagegen die Lektüre von Perrsons „Profiteuren“. Selten einen so schlecht geschriebenen Krimi gelesen.
Und welch unglaublich obszöner Quatsch, dieses Auftragsmörder-Handbuch.
Tot sind Anton Bruckner, Jean-Henri Fabre und Chico Marx. Die kleine große Edith Piaf, an deren Grab ich gerne einmal wieder stehen würde. Und Uwe Barschel.
Dienstag, 10. Oktober 2006 – Elfuhrelf, vierzehnkommaneun. Sonnig, kalt.
Es gibt Tage, es gibt so Tage … Es gibt Tage, die sollte man einfach aus dem Kalender streichen.
Noch im Sommer haben wir gemeinsam den Weltmeisterschafts-Stammtisch für die „Giessener Allgemeine“ bestritten, jetzt wird folgende Nachricht verbreitet: „Der als Entdecker und Manager von NBA-Star Dirk Nowitzki bekannt gewordene ehemalige Basketball-Olympiamannschaftskapitän Holger Geschwindner ist wegen Steuerhinterziehung zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Der 60-Jährige hatte am Montag in dem Prozess vor dem Landgericht Hof gestanden, Provisionen aus seiner Tätigkeit für Nowitzki nicht versteuert zu haben. Nach Angaben des Vorsitzenden Richters Sven Zech soll Geschwindner insgesamt 3,034 Millionen Euro Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer hinterzogen haben.“
Wohlgemerkt: es handelt sich nur um die Provisionen. Und nur um die Provisionen aus einer Nebentätigkeit. Und ja auch nur um die Steuern, die darauf hätten gezahlt werden müssen. Summen sind das, Summen …, dass einem am Ende schwindelig … und übel …
Tote: Christian Friedrich Daniel Schubart, Lea Grundig, Orson Welles, Yul Brunner, Eugene Istomin.
Montag, 9. Oktober 2006 – Sechsuhrnullnull, neunkommasieben. Dunkel.
Es gibt so einen selbstgerechten Atheismus, gepaart oft mit einer schlampigen Diesseitigkeit, dass man aufstehen möchte und rufen: Nicht alle, die in die Kirche gehen, sind Idioten!
Ein Auftragsmörder heißt im Englischen contract killer oder hit man. In den USA erschien 1983 im Paladin Verlag unter Pseudonym ein Handbuch für den Auftragsmörder: Rex Feral, „Hit Man. A Technical Manual for Independant Contractors.“ 1993 geschah in Maryland ein dreifacher Mord, bei dem die Ermittlungen nahelegten, dass dieses Buch dem Täter bei der Durchführung seines Verbrechens hilfreich gewesen war. Die Familien der Opfer verklagten den Verlag, bekamen schließlich mehrere Millionen Dollar Entschädigung und die Zusicherung, dass die restlichen 700 Exemplare des Buches vernichtet würden. Seitdem wird es auf dem Antiquariatsmarkt hoch gehandelt. Die billigste Ausgabe, die über einen der amerikanischen Amazon-Shops zu haben ist, kostet $ 66,88, die teuerste $ 1699,99. Trotzdem dauert es keine fünf Minuten, bis ich den vollständigen Text von “Hit Man” im Internet gefunden habe. Die Betreiber einer amerikanischen Nazi-Homepage haben ihn online gestellt.
In Deutschland scheint das Buch vollkommen unbekannt zu sein. Die deutschsprachige Suche bei Google erzielt gerade mal zehn Treffer – Antiquariatsangebote. Man fragt sich, was die Kollegen Krimiautoren eigentlich nachts so machen.
Tot sind Ché Guevara, Oskar Schindler, Jacques Brel und Roy Black.
Sonntag, 8. Oktober 2006 – siebenuhrsieben, achtkommasieben. Am Himmel dick der bleiche Vollmond. Sehr kalt.
Im Radio ein Interview mit Paavo Jäärvi, 1962 geboren, neuer Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters. Interessant werde ein Dirigent erst in der zweiten Hälfte seines Berufslebens, sagt er. Vorher habe er zu lernen, zu probieren, zu reifen. Und: Als er Norringtons Beethoven-Aufnahmen gehört habe, habe er zunächst geglaubt, sein Plattenspieler sei defekt. Dann habe er nach und nach die Bedeutung der historischen Aufführungspraxis begriffen.
Ein Leserinnenbrief zu Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“ und zum „Zeit“-Text „Weniger Disziplin, bitte!“:
„Bernhard Bueb hat als Hartmut von Hentigs Schüler und Chef der Schule Schloss Salem in seiner Berufsbiografie nie andere pädagogische Wirklichkeit als die der Reformpädagogik im Landerziehungsheim erlebt.
Salem florierte unter seiner Leitung. Die Schülerinnen und Schüler finanzstarker Herkunft (seine Bemühungen um Stipendiaten änderten daran nicht viel) lernten dort im engen Regelwerk mit den bekannten Schlupflöchern ein Rollenverhalten für alle Schauplätze, die das Internat bot: Unterricht brauchte man nur nach persönlichem Bedarf ernst nehmen, im außerunterrichtlichen Programm engagierte man sich oder man ließ es bleiben, und an den straff durchorganisierten Elterntagen trugen alle Uniform, besuchten Gottesdienste und Gemeinschaftsveranstaltungen und gaben für ein paar Stunden die nahezu perfekten höheren Töchter und Söhne. Die Lehrkräfte waren Elternersatz, der sie oft nicht sein wollten. Sie mussten alles, was sie je gelernt oder auch nicht gelernt hatten, in den Dienst dieser Schule stellen – gelegentlich mit unprofessionellem Ausgang. Bernhard Bueb an der Spitze lebte alles, was er verlangte, beispielhaft vor. Als katholischer Theologe hatte er das Leiten als Dienen verinnerlicht. Er war ein Chef mit Humor und Gelassenheit, hatte immer für alle ein offenes Ohr, Verständnis und Rat. Und er war ein sehr kluger, geduldiger Stratege: er ging aus einem jahrelangen Streit mit dem Salemer Hausherrn als Sieger hervor. Er verlangte Disziplin, weil es das Internatsleben erforderte. Wo mehrere Schüler/innen sich über Jahre ihres Heranwachsens ein renovierungsbedürftiges Schlaf- und Arbeitszimmer teilen, wo ein Studienrat zusätzlich Ersatzvater einer ganzen Gruppe pubertierender gleichaltriger Söhne ist, wo die soziale Herkunft von Schülerschaft und Lehrkörper völlig gegensätzlich ist (hat je ein Absolvent aus Salem Lehramt studiert?), wo ein guter Ausbildungsabschluss nicht die Voraussetzung für einen Job ist (irgendwo im Netzwerk wird man garantiert aufgefangen), ist strenge Disziplin nötig und „lobenswert“ – aber nur dort. Für die meisten jungen Menschen unserer Gesellschaft ist eine Schule erforderlich, die Selbstständigkeit, Freiheit und Verantwortung zur ihren Werten macht und eine Erziehung, die mit Zuwendung gute zwischenmenschliche Beziehungen gestaltet. Das nötige Maß an Disziplin stellt sich dann von alleine ein.
Dr. Ingrid Geschwentner, Leiterin St.-Dominikus-Gymnasium in Karlsruhe, von 1987 bis 1990 Lehrerin in Salem“
Tote: Henry Fielding, Friedrich Krupp, Willy Brandt
Samstag, 7. Oktober 2006 – Sechsuhrvierzehn, vierzehnkommavier. Dunkel.
Jacques René Mesrine, Frankreichs späterer Staatsfeind Nr. 1, war sechsundzwanzig Jahre alt und bereits zum zweiten Mal verheiratet, als er 1962 erstmals verhaftet wurde. Er überfiel in den folgenden siebzehn Jahren unzählige Banken, nahm einen Richter als Geisel, entführte den Millionär Henri Lelièvre, soll die beiden Zuhälter seiner Geliebten ermordet haben und ist wohl ebenfalls verantwortlich für den Mord an zwei Forstbeamten. 1977 schrieb Mesrine im Hochsicherheitstrakt seine Autobiografie „Der Todestrieb“. Wie schon mehrere Male zuvor, gelang es ihm auch diesmal wieder zu fliehen. Am 2. November 1979 wurde er mit seinem BMW an der Porte de Clignancourt von einem zivilen Lieferwagen gestoppt, aus dem heraus Scharfschützen der Polizei ihn mit 19 Schüssen durch die Windschutzscheibe töteten. Der bei dieser Aktion anwesende Kommissar Broussard gab später an, Mesrine sei gewarnt worden und die Polizei habe in legitimer Notwehr gehandelt. Kommissar Pellegrini, ebenfalls vor Ort, erklärte hingegen, Warnungen habe es nicht gegeben, da die Schützen den Staatsauftrag hatten, Mesrine zur Strecke zu bringen und keinerlei Risiko eingehen durften. Ein Ersuchen des Sohnes von Mesrine, die Todesumstände erneut zu untersuchen, wurde gestern vom Pariser Kassationsgerichtshof abgelehnt.
Todestag: Edgar Allen Poe, Gustav Gründgens, Wolfgang Kieling.
Freitag, 6. Oktober 2006 – Dreizehnuhrdrei, sechzehnkommaein Grad. Bedeckt.
Von einem „Jahrhundertfall“ spricht der Staatsanwalt im elsässischen Mulhouse. Dort war ein Mann vor zwei Wochen wegen Diebstahls verhaftet worden und hatte im Laufe der Vernehmungen gestanden, in den vergangen Jahren 30 Frauen im Dreiländereck von Schweiz, Frankreich und Deutschland ermordet zu haben. Kurz darauf widerrief er sein Geständnis und erhängte sich in seiner Zelle.
Was, wer ist da, bitte? Eine Frau Schmidt? Welche Firma? Foolproofed? Kenne ich nicht – „Ja. MAX sucht den Topfighter – Haben Sie denn unsere Mail nicht bekommen? Es geht um eine neue Kampfsportart.“ – Nee, entschuldigen Sie, aber ich verstehe gar nichts. Um was geht’s denn? – „Na, da wird es das Beste sein, ich schicke Ihnen noch mal unsere Mail.“ – Ja, das denke ich auch.
Eine Stunde später, die Mail ist da: „Hallo Matthias Altenburg, hoffentlich klappt dieser Versuch…nun ist es auch in Deutschland soweit: Das DSF sorgt mit dem Event „MAX sucht den Top Fighter“ für ein Novum in der Kampfsportgeschichte. Bei der härtesten Kampfsportart der Welt steigen die Fighter in einen so genannten Cage und kämpfen dort unter Einsatz der Kampfsportarten Boxen, Taekwondo, Wing-Tsung, Karate, Thaiboxen, Kung-Fu und Jiu-Jitsu Deutschlands Top Fighter aus.
„MAX sucht den Top Fighter“ auf DSF zeigt den Weg der Kämpfer über das Casting ins straff organisierte Camp. Nur wer hier dem Drill stand hält und die neue Kampfsportart erlernt, kann sich in den Kämpfen durchsetzen. Nachdem insgesamt acht Kämpfer bestanden haben, sehen sie sich mit einem Kontrastprogramm konfrontiert: Die Finalkämpfer sollen tiefer in die Philosophie von MAX eintauchen, mentale Stärke trainieren und lernen, sich wie Gentleman-Fighter zu verhalten. Doch am Ende können nur zwei Kämpfer ins Finale einziehen! Die 60-minütigen Sendungen (7.10. 20.00 – 21.00 Uhr ab 14.10. je 21.15 – 22.15 Uhr) im DSF, moderiert von Mola Adebisi und Katharina Kuhlmann (Tuning TV), zeigen neben dem Trainingsleben im Camp die Geschicklichkeits- und Ausdauerspiele (Battles) und die Ausscheidungskämpfe. Showelemente und Promi-Talks runden „MAX sucht den Topfighter“ ab. Weitere Informationen finden Sie im Anhang. Sollten Sie Interesse an einem Interview mit einem der Fighter haben, so setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung. Mit freundlichen Grüßen …“
Heute sei mal nur gedacht des italienischen Komponisten Francesco Manfredini, dessen Weihnachtskonzert (op.3, No. 3) jetzt gleich mal in den Spieler geschoben wird.
Donnerstag, 5. Oktober 2006 – Zehnuhrsechsundzwanzig, elfkommaacht Grad. Sonnig. Kalt. Schwerer Kopf.
Beim Friseur im Radio die Meldung: In Frankfurt seien ein Mann und eine Frau von Unbekannten brutal zusammengeschlagen worden, während eine ganz Gruppe von Taxifahrern tatenlos zugesehen habe.
Da man nicht annehmen konnte, Wolfgang Priklopil habe die zehnjährige Natascha Kampusch entführt, um sie zu seiner Haushälterin auszubilden, hat eine (unausgesprochene) Frage wie keine andere das öffentliche Interesse seit ihrer Flucht vor sechs Wochen angeheizt: Welche sexuellen Implikationen hatte das Verhältnis des Entführers zu seinem Opfer? Der verhalten offensive Umgang Kampuschs mit den Medien war wohl vor allem der verständliche Versuch, die Antwort auf diese Frage zu vermeiden. Dass die Straße so viel Restdiskretion nicht aufbringen würde, zeigten die wilden Spekulationen in den Blogs und Chatrooms. Nun bietet der „stern“ neues Futter: Priklopil habe in der Wiener Sado-Maso-Szene verkehrt. Man habe einen ihm gehörenden Computer beschlagnahmt, auf dem große Datenmengen gelöscht worden seien: „Vermutlich hat Priklopil sein Opfer bei grausamen Spielchen gefilmt und fotografiert, um damit Geld zu machen.“ Natascha Kampusch sei „immer wieder mit Handschellen gefesselt, geschlagen und gedemütigt worden. Auch andere Personen sollen daran beteiligt gewesen sein.“ Die Wiener Polizei hat den Bericht des „stern“ umgehend dementiert. Berichtet wird auch, dass es möglicherweise Kontakte der Mutter Natascha Kampuschs zu dem Entführer Wolfgang Priklopil gegeben habe.
Morgens mit Olaf im Lesecafé … ob wir die „Geisterbahn“ als Buch machen … Abends mit Jürgen auf der Rowohlt-Party in der Schirn. Michael Farin erzählt, er habe gerade ein 1200-seitiges Lexikon der Fußballfilme herausgebracht. Krausser, sichtlich angeknockt von den Verrissen seines Romans, meint, er solle nun vielleicht auch seinen hochoffiziellen Abschied von der Literatur verkünden. Es geistern die Gestalten des Betriebs vorbei: Kürten, Herles, Heidenreich, Schirrmacher. Christian Kracht torkelt, rempelt, grinst, stürzt schließlich. Was ist mit ihm? Bekokst? Betrunken? Schließlich schmeißt ihn einer der Türsteher (mit schwarzen Handschuhen … warum trägt der schwarze Handschuhe?) raus. Was für eine Szene …
Vor 126 Jahren starb Jacques Offenbach.
Mittwoch, 4. Oktober 2006 – Fünfuhrzwölf, elfkommaneun Grad. Dunkel.
Den ganzen Tag in den Dokumenten zu den beiden großen kanadischen Kriminalfällen der letzten Jahrzehnte gesteckt: dem Fall Bernardo / Homolka und dem Fall Pickton. Mit Google Earth gelingt es sogar, das riesige Gelände der ehemaligen Schweinefarm an der Dominion Avenue in Port Coquitlam ausfindig zu machen, das die Kriminaltechniker über mehr als zwei Jahre hinweg Zentimeter für Zentimeter umgegraben und nach DNA-Spuren der verschwundenen Frauen abgesucht haben. Tatsächlich sieht es auf dem Luftbild aus wie eine Wüste.
Seltsam ist das momentan noch geringe Interesse in Europa am Fall Robert Pickton: Sucht man die deutschsprachigen Seiten nach seinem Namen durch, erlangt man gerade mal 88 Treffer. International sind es 39.700. Wenn im Januar 2007 endlich die Hauptverhandlung der ersten sechs Fälle beginnt, wird die Trefferzahl sicher noch einmal sprunghaft ansteigen. Angeklagt ist Pickton inzwischen wegen Mordes in 26 Fällen. Vermutet wird aber, dass er mehr als doppelt so viele Frauen aus dem Eastend von Vancouver ermordet hat.
In dem Wust von Leserbriefen zum „Disziplin“-Artikel auch das Schreiben einer ehemaligen Salem-Kollegin von Bueb, die weder schimpft noch lobt. Stattdessen erklärt sie Buebs Haltung damit, dass er in seinem ganzen Berufsleben nur das luxuriöse „Landerziehungsheim“ kennengelernt habe, wo die Zöglinge aus finanzstarken Elternhäusern in den Lehrern einen Elternersatz suchen, aber nie darauf angewiesen sind, ihre Zukunft durch einen guten Schulabschluß zu sichern, da sie durch das „Netz der Seilschaft“ schon aufgefangen werden.
Mail von MH, dass er sich beim Lesen der „Geisterbahn“ manchmal vorkomme, als stöbere er in meiner Abwesenheit in meiner Schreibtischschublade und stoße auf etwas Persönliches, Intimes. Und ich frage mich künftig wahrscheinlich bei jedem Satz, ob die Grenze zur Peinlichkeit schon überschritten ist.
Der alte Günter Wand mit den beiden letzten Schubert-Sinfonien im Fernsehen. Klingt sehr breit, sehr warm, sehr schön. Aber eben auch ein wenig zu … Was? Das alles!
Todestag von Rembrandt. Und von Janis Joplin und Glenn Gould.
Dienstag, 3. Oktober 2006 – Dreizehnuhrsiebenundfünfzig, fünfzehnkommazwei. Seit vierundzwanzig Stunden Regen.
Anruf Fernsehen: „Wir haben Ihren Artikel in der ‚Zeit’ gelesen und hätten Sie gerne in unserer Sendung, um mit Herrn Bueb zu diskutieren“ – Wann? Nee, da kann ich nicht! – „Mmmh, sehr schade“. – Tja, vielen Dank, tschüß. —- Eine viertel Stunde später: „Nochmal ich. Wir hätten Sie aber wirklich gerne. Wir holen Sie auch ab und bringen Sie wieder zurück.“ – Hatte ich nicht erwähnt, dass ich keine Zeit habe? Außerdem steht in dem Artikel ja drin, was ich zu sagen habe. Kann ja jeder nachlesen. Glauben diese Fernsehleute eigentlich alle, dass man sämtliche Verabredungen sausen lässt, weil man sich nichts Schöneres vorstellen kann, als seinen Rüssel vor die Kamera zu halten?
Anruf einer Fotografin und Puppenspielerin. Ob ich ein winziges Augenblickchen Zeit … Denn Geschichten könne Sie mir erzählen, Drogen, Zuhälterei, Nutten, Freier, Stricher, kriminelle Polizisten, Geschichten, geradezu gemacht für einen Krimiautor mit poetischer Ader, die ich, wenn sie nicht völlig in die Irre gehe, doch durchaus mein eigen nenne, Geschichten, wie gesagt, voller Tragik, Leidenschaften, Abgründe, jüdische Hausbesitzer, mehrere sehr reiche jüdische Hausbesitzer, Spekulanten, ohne jede Rücksicht, nicht, dass sie was gegen Juden …, aber schließlich ihre Erfahrungen … , die sie mir freilich nicht völlig gratis, da sie ja auch sehen müsse, wo sie bleibe, umsonst sei der Tod, beteiligt werden wolle sie schon, wenn ich etwas aus dem überreichen Stoff, den sie mir quasi auf silbernem Tablett … eine kleine Erfolgsbeteiligung sozusagen … vorab wenn möglich …
Gestorben: Franz von Assisi (Vogelflüsterer), Woody Guthrie (Wanderarbeiter), Franz Josef Strauß (Schurke), Heinz Rühmann (Tankwart).
Montag, 2. Oktober 2006 – Fünfuhrdreiundzwanzig, fünfzehnkommaneun. Dunkel, windig.
Gestern gegen 5 Uhr morgens haben sich nach der Schließung eines Lokals in Frankfurt/Sachsenhausen ca. 100 Personen zunächst untereinander, dann mit der angerückten Polizei eine Schlägerei geliefert. Interessant daran ist weniger der Tatbestand als der Ort, an dem dies stattfand: Im Paradiesgässchen und auf dem Affentorplatz.
Gestern ist im Alter von 74 Jahren der Filmregisseur Frank Beyer gestorben. Wenn jemand so bekannt war wie er, aber nicht wirklich berühmt zu nennen ist, bezeichnet man ihn in den Medien gerne als: namhaft. Im FAZ.net allerdings will man es dabei nicht bewenden lassen und steigert auch noch das unsteigerbare Adjektiv: „Einer der namhaftesten“. Haftesten??? Dem Nachrichtenredakteur des Mitteldeutschen Rundfunks reicht auch das noch nicht aus, er fügt noch ein „h“ ein: „Einer der nahmhaftesten …“ Und was war er von Beruf? Vielleicht Resischöhr?
Tot sind Max Bruch, Marcel Duchamp, Grethe Weiser, Rock Hudson, Heinz Konsalik.
Sonntag, 1. Oktober 2006 – Achtuhrzweiunddreißig, sechzehnkommadrei. Hat lange geregnet, jetzt ist der Himmel grau.
Heute vor zehn Jahren, am 1. Oktober 1996, wird der jüdische Geschäftsmann Jakub Fiszmann beim Verlassen seines Frankfurter Büros entführt und in einen Keller gesperrt. Einen Tag später meldet er sich per Telefon und gibt die Forderung der Entführer bekannt: 3,5 Millionen Mark Lösegeld. Ohne dass die Familie ein weiteres Lebenszeichen erhält, erhöhen die Täter kurze Zeit später den Betrag auf vier Millionen. Das Geld wird auf einem stillgelegten Parkplatz an der A 3 bei Idstein deponiert und dort von den Erpressern, die anschließend unerkannt entkommen können, abgeholt. Erst am 12.Oktober erfährt die Öffentlichkeit von dem Fall. Vier Tage später werden der Malermeister Rainer Körppen aus Langen und sein Sohn Sven festgenommen. Unter dem Druck der Verhöre gibt Sven Körppen die Entführung zu. Sein Vater sei bereits am 3.Oktober gemeinsam mit Jakub Fiszmann in einem Waldstück bei Reckenroth im Rhein-Lahn-Kreis verschwunden und kurz darauf alleine wiedergekommen. Am 19. Oktober findet man dort die Leiche des Entführten. Er ist mit einem Spaten erschlagen worden, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört, das Rückgrat zweimal gebrochen.
Während des nachfolgenden Prozesses wird die lange kriminelle Laufbahn Rainer Körppens bekannt. 1971 erschießt er einen Zuhälter; die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, weil sie Körppens Notwehr-Version glaubt. Im Februar 1977 mißhandelt er seine Ehefrau in der Badewanne, würgt sie bis zur Bewußtlosigkeit, dreht den Wasserhahn auf und lässt sie sterben. Er wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge bestraft. 1991 entführt er Peter Fiszmann, einen Neffen Jakubs. Der Junge kommt frei, bevor das geforderte Lösegeld bezahlt wurde. Am 1.September 1993 entführt er Achim Heftrich, den Junior-Chef eines Dietzenbacher Fleischgroßhandels, und sperrt ihn in eine Holzkiste. Körppen lotst einen Polizisten auf die Schiersteiner Rheinbrücke und lässt ihn das Lösegeld in Höhe von 2 Millionen Mark herunterwerfen. Körppen, in Taucherausrüstung, taucht aus dem Wasser auf, nimmt das Paket an sich und taucht wieder unter. Heftrich kommt frei.
Auf den Tag genau zwei Jahre nach der Entführung Jakub Fiszmanns werden die Körppens verurteilt. Das Urteil gegen den Vater lautet: Lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Sven Körppen erhält zwölf Jahre Haft. Dieser Tage wurde bekannt, dass er das Gefängnis bereits im Mai wieder verlassen hat.
Tote des Tages: Corneille († 1684) und Wilhelm Müller († 1827). Im Jahr 1956 starb der belgische Radrennfahrer Constant „Stan“ Ockers im Alter von 36 Jahren während eines Rennens in Antwerpen. 1992 erschoß der Bundeswehrgeneral a.D. Gert Bastian zunächst seine Freundin Petra Kelly und dann sich selbst.